Rezension über:

Günter Riederer: Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871 - 1918) (= Trierer Historische Forschungen; Bd. 57), Trier: Kliomedia 2004, 529 S., ISBN 978-3-89890-049-2, EUR 76,00
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Rezension von:
Martin Kohlrausch
Deutsches Historisches Institut, Warschau
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Martin Kohlrausch: Rezension von: Günter Riederer: Feiern im Reichsland. Politische Symbolik, öffentliche Festkultur und die Erfindung kollektiver Zugehörigkeiten in Elsaß-Lothringen (1871 - 1918), Trier: Kliomedia 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/07/9336.html


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Günter Riederer: Feiern im Reichsland

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Feste gehören bereits seit längerem zu den bevorzugten Themen der Geschichtswissenschaft. Mit der Konjunktur der Nationalismusforschung und dann der Kulturgeschichte rückten die vielen Dimensionen derartiger alltäglicher Ausnahmesituationen ins Blickfeld auch regionaler Studien. In seiner Studie zu 'Feiern im Reichsland', einer für den Druck überarbeiteten Dissertation, wendet sich Günter Riederer dem besonders viel versprechenden Beispiel Elsass-Lothringen zu. Es geht, vom Verfasser recht allgemein formuliert, um das Zusammenspiel der "Identitäten" Nation, Region, Geschlecht, Konfession, immer mit dem Anspruch, Ergebnisse zu liefern, die über den Fall des Reichslandes hinaus weisen. Konkret wendet sich die Studie der Manifestation dieser "Identitäten" in Symbolen und Zeichen und deren "Trägerschichten" zu.

Riederer arbeitet mit einem breiten Ansatz, der um die Schlagworte Erinnerungsorte, kollektives Gedächtnis, erfundene Traditionen kreist und notwendig über den engeren Gegenstand der Festkultur hinausführt. Sowohl für den methodischen Ansatz als auch für den Untersuchungsgegenstand steht umfangreiche Literatur zur Verfügung, auf die der Verfasser durchweg souverän zurückgreift. Zudem kann er sich auf eine breite archivalische Überlieferung stützen, die insbesondere in Polizeiberichten aussagekräftiges Material bereit hält und deren Aufarbeitung die wesentlichen Ergebnisse der Studie liefert.

Die Studie gliedert sich in sieben Kapitel, in denen Beschreibung und Analyse mitunter rasch wechseln. Zunächst widmet sich Riederer der staatlich sanktionierten Festkultur mit dem Anspruch der Assimilierung der regionalen Bevölkerung, insbesondere den Kaisergeburtstagsfeiern. Es folgt die Schilderung der bürgerlichen Vereinskultur sowie von Volks- und Kirchenfesten und den Versuchen der Politisierung derselben. Hieran schließen Betrachtungen zum 'Kulturtransfer' und Grenzlanderfahrungen sowie zur Frage nach Trennendem und Einigendem in den Feiern an. Ein Kapitel über Symbolsysteme entlarvt die Künstlichkeit der jeweiligen zeichenhaften Vereinnahmungsversuche und schließlich geht es noch einmal genereller um das Geschichtsbewusstsein in der Region und um den Platz der Region im nationalen Bewusstsein des Gesamtstaates.

Der Verfasser kann überzeugend herausarbeiten, wie sehr Ereignisse und Entwicklungen in Frankreich (z. B. die Weltausstellung 1878) für die Bevölkerung Elsass-Lothringens relevant blieben und wie Lothringer und insbesondere Elsässer dank eines ausgeprägten regionalen Eigensinns den Vereinnahmungsversuchen des neuen Reichs widerstanden bzw. teils erst in Abgrenzung regionales Bewusstsein entwickelten. Hinzu kam, dass die Phase nach der Annexion unter anderem durch verbesserte Kommunikation und Verkehr allgemein formativ für ein modernes Regionalbewusstsein war. Das Epitheton "Laboratorium der Moderne" (24) für das Reichsland scheint gleichwohl etwas hoch gegriffen.

Dabei steht der Begriff 'Reichsland' symptomatisch für die Künstlichkeit und Fantasielosigkeit offizieller 'Symbolgenerierung' im Kaiserreich, aber auch für die unhintergehbaren Schwierigkeiten derselben. Versuche der deutschen Administration, die neu-alten Territorien auch mental dem Reich einzuverleiben, kennzeichnen die Angliederung des Reichslandes als eine der ersten modernen Annexionen. In einem verminten Umfeld versuchten Administration und zugewanderte 'Altdeutsche', insbesondere über die Förderung des elsässischen und lothringenschen Regionalismus, die Integration des Reichslandes in das Reich zu befördern. Auffallend sind dabei die zahlreichen Beispiele für ein umsichtiges und flexibles Vorgehen der deutschen Verwaltung, z. B. der Verzicht auf die Feier des Sedan-Tages. Dass über nahezu 50 Jahre hinweg keine gewaltsame Opposition gegen die neuen Landesherren auf kam, mag als Erfolg dieser Deeskalationspolitik avant-la-lettre gelten. In den Wertungen des Verfassers geht dieser bemerkenswerte Befund etwas verloren.

Aber auch die zahlreichen aufgeschlossenen Beamten, insbesondere auf den höheren Ebenen der Verwaltung, kamen nicht um grundlegende Dilemmata herum. Feste wie der Kaisergeburtstag besaßen einen gegenüber der einheimischen Bevölkerung tendenziell ausschließenden Charakter - teils durch die ausgrenzende Vorbereitung durch die 'Altdeutschen', vor allem aber durch die bewusste Verweigerung der einheimischen Bevölkerung. Als wichtigste Einfallschneise des Reichskultes erwies sich bezeichnenderweise der im Reichsland 'unmittelbar' herrschende Kaiser. Versuche, Wilhelm II. als einigendes Symbol zu etablieren, die andernorts scheiterten, scheinen hier so nicht existiert zu haben. Wilhelm II. kam entgegen, dass er, anders als sein Großvater, nicht mit dem Krieg von 1870/71 assoziiert wurde, eine vergleichsweise offene Projektionsfläche bot und hohe Präsenz im Reichsland zeigte. Durch seine Reisen und die Bau- und Ankaufprojekte (Urville, Hohkönigsburg) spielte der Monarch auch eine wichtige Rolle in der symbolischen Erschließung dieses einzigen Reichsterritoriums, das - abgesehen von den Hansestädten - über keine regionale Dynastie verfügte. Schlachtfeldtourismus, die Erinnerung an den letzten 'Einigungskrieg' und die Besonderheiten der Grenzlandsituation trugen dazu bei, das Reichsland konkret touristisch und abstrakt im nationalen Diskurs als Erinnerungsort zu etablieren. In den Versuchen, die Vogesen in ein 'nationales Gebirge' zu verwandeln, kann der Verfasser diese "Nationalisierung des Regionalbewusstseins" (95) überzeugend und eindringlich beschreiben.

Die Vereine, die hierbei als Transmissionsriemen dienten, erwiesen sich im Hinblick auf die Integration der 'Reichsländer' allerdings als ambivalent. Einerseits verstärkte die oft anzutreffende Doppelstruktur z. B. von Männergesangsvereinen die getrennten Lebenswelten von 'Alt- und Neudeutschen', andererseits konnten gerade die reüssierenden Kriegervereine diese Dualität mittelfristig durchbrechen. Bei aller Schwierigkeit, die solchen Schätzungen innewohnt, wäre es wünschenswert gewesen, in der Opposition der 'Reichsländer' die Anteile von regionaler Opposition gegen Preußen - die in mindestens demselben Maße auch andernorts anzutreffen war - und einer explizit profranzösischen Haltung sowie die einer republikanischen gegenüber einer monarchischen Haltung auseinander zu dividieren. Zu oft wird zu pauschal von der einheimischen Bevölkerung gesprochen, die z. B. durch Absingen der Marseillaise ihre Opposition markierte, sich dann aber 1919 in großen Teilen nicht mehr textsicher zeigte. In Teilen mag hier aber auch eine verzerrende Wirkung des Untersuchungsgegenstandes vorliegen. In den Festen kommen konfliktbeladene Punkte zum Ausdruck, die im Alltagsleben eine untergeordnete Rolle spielten. Interessant wäre eine kontrastierende Untersuchung etwa von 'Fachvereinen', denen die nationale Problematik nicht von vornherein eingeschrieben war.

Insgesamt ist eine detailreiche und abgewogene Studie zu würdigen, die im Spannungsverhältnis zwischen Regionalismus und innerer Nationalstaatsbildung zahlreiche neue, vor allem eben auch ambivalente Entwicklungen aufzeigt und das Fest als genuin politischen Gegenstand überzeugend analysiert. In der Präsentation des Materials eilt der Verfasser allerdings oft allzu schnell vom Allgemeinen zum Speziellen und wieder zurück. Durch eine konzise und abschließende Darstellung der Besonderheiten der einmaligen - und gerade dadurch so aufschlussreichen - Situation der Region in der Einleitung hätte sich beispielsweise manche Wiederholung vermeiden lassen.

Martin Kohlrausch