Annika Hoffmann: Drogenrepublik Weimar ? Betäubungsmittelgesetz - Konsum und Kontrolle in Bremen - Medizinische Debatten (= Hamburger Studien zur Kriminologie und Kriminalpolitik; Bd. 36), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2005, 208 S., ISBN 978-3-8258-8703-2, EUR 14,90
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Drogenkonsum und Drogenrausch gehören zum Image der 1920er-Jahre. Das bleiche Gesicht der kokainsüchtigen Tänzerin Anita Berber, Walter Benjamins Selbstexperimente mit Haschisch und die Morphiumabhängigkeit so gegensätzlicher Figuren wie Hermann Göring oder Hans Fallada illustrieren die verbreitete Deutung der Weimarer Kultur als "Tanz auf dem Vulkan". [1] Aus solchen Wahrnehmungen leitet sich das Bild einer "Drogenwelle" ab, das von der einschlägigen historischen Spezialliteratur teilweise reproduziert worden ist. Annika Hoffmann legt in ihrer Bremer Magisterarbeit, die nun veröffentlicht vorliegt, eine empirisch fundierte Kritik dieser Interpretation vor. [2] Sie zeigt, dass es einen massenhaften Konsum von Rauschmitteln nicht gab, dass er von den Zeitgenossen auch keineswegs übereinstimmend wahrgenommen wurde und dass die Tendenz zur Kriminalisierung aus einer Mischung von internationalem Druck, Sorge um die "Volksgesundheit", Zentralisierungstendenzen und ärztlicher Standespolitik resultierte.
Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit den ungenauen Angaben zum Drogenkonsum in der Weimarer Republik in der bisherigen Forschung geht Hoffmann auf die relevanten gesetzlichen Regelungen ein. Bereits seit der Jahrhundertwende waren Opiate, Kokain und andere Substanzen nicht mehr frei erhältlich. Ein eigenes Betäubungsmittelgesetz, das den Handel mit Opium auf Apotheken beschränkte und unter die Aufsicht des Reichsgesundheitsamtes stellte, nicht aber Erwerb und Besitz verbot, wurde 1920 verabschiedet. Hintergrund hierfür waren verschiedene internationale Konferenzen, auf denen besonders die USA eine verstärkte Kontrolle von Rauschmitteln gefordert hatten, sowie der Versailler Vertrag, in dem die Verpflichtung zu einer gesetzlichen Regelung festgeschrieben worden war. Eine wissenschaftliche oder politische Debatte darüber gab es nicht, der Hinweis auf die "Volksgesundheit" reichte als Begründung aus. Nach diesem eher milden Gesetz wurden in den folgenden Jahren verschiedene Beschränkungen, Strafverschärfungen, Kontrollmöglichkeiten gegenüber Ärzten und Apothekern und Ausweitungen der davon erfassten Rauschmittel beschlossen, wobei das Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln von 1929 mit einem "Umsichgreifen des suchtmäßigen Verbrauchs" in den Großstädten begründet wurde.
Der folgende Teil untersucht den Umgang mit Betäubungsmitteln am Beispiel der Handelsstadt Bremen, um einen Kontrapunkt zur Konzentration auf Berlin und Hamburg in der bisherigen Literatur zu setzen. Anhand von Akten der Medizinalbürokratie kann Hoffmann zeigen, dass in einer Stadt, in der es eine breite und aktive Bewegung gegen den Alkoholismus gab, Ärzte, Apotheker und Polizei kein Drogenproblem wahrnahmen. Ermittlungen wurden selten und erst auf Druck des Reiches eingeleitet, das seinerseits auf Vorwürfe insbesondere aus den USA reagierte, dass Deutschland zu wenig gegen den Handel unternehme. Sie mündeten ganz überwiegend in Ermahnungen statt in Verurteilungen, was viel mit dem guten Ruf der beteiligten Kaufleute, Ärzte und Apotheker zu tun hatte.
Hoffmann schließt ihre Darstellung mit einer Analyse der medizinischen und pharmazeutischen Beschäftigung mit Betäubungsmitteln in Fachzeitschriften. Auch hier handelte es sich um ein eher nachrangiges Thema: Die zeitgenössischen Erhebungen ergaben keineswegs eine dramatische Zunahme des Drogenkonsums, sodass die Verschärfungen der Gesetzgebung auf unsicherer Grundlage erfolgten. Eine intensivere Auseinandersetzung rief erst ein Reichsgerichtsurteil von 1926 hervor, in dem ein Arzt wegen übermäßiger Kokainabgabe verurteilt worden war. Damit war ein entscheidender Schritt zu einer repressiven Drogenpolitik getan. Zudem standen Ansehen und rechtliche Stellung der ärztlichen Profession auf dem Spiel, die nun mehrheitlich eindeutige gesetzliche Regelungen forderte und zur Selbstregulierung und -reinigung aufrief.
Diese Befunde werden differenziert und auf solider empirischer Grundlage herausgearbeitet. Der klare argumentative Dreischritt überzeugt dabei ebenso wie die genaue Auseinandersetzung mit der einschlägigen Sekundärliteratur. Auf diese Weise widerlegt Annika Hoffmann die Annahme einer Weimarer "Drogenwelle" und gewinnt daraus auch Argumente gegen eine repressive Drogenpolitik und die scheinbaren Evidenzen, auf die sie sich stützt. Für eine Magisterarbeit ist das eine hervorragende und zu Recht publizierte Leistung. Es tut dieser Einschätzung keinen Abbruch, wenn einige Erweiterungsmöglichkeiten genannt werden. [3] So basiert Hoffmanns Untersuchung trotz des einleitenden Bekenntnisses zu einer "konstruktivistisch orientierten soziologischen Theorie zur Entstehung sozialer Probleme" (18) auf einer klaren Dichotomie zwischen unsachlichen, verzerrten Wahrnehmungen und historischer, sachlich zu beschreibender Realität. Das ermöglicht einerseits, die Annahme einer "Drogenwelle" überzeugend zu kritisieren, kann aber andererseits die Faszination des Drogenkonsums für die Zeitgenossen nur unzureichend erfassen. Hier würde es - wie Hoffmann selbst andeutet - weiter führen, mediale Bilder einzubeziehen. Aufschlussreich ist etwa die Figur des haltlosen, aber gerade dadurch bedrohlich aktiven Menschen, der Morphiumsucht mit religiösem Wahn oder fataler Liebe verband. Sie markierte einen Negativpol im Diskurs über Chancen und Risiken von Individualität in der Großstadt, der in Boulevardpresse, Romanliteratur und Film geführt wurde. [4] Ferner ließe sich in diesem Zusammenhang die öffentliche Präsenz von Künstlern wie von genusssüchtigen Konsumenten und ihre potenzielle Sprengkraft für die gesellschaftliche Ordnung thematisieren, die fester Bestandteil des zeitgenössischen Berlinbildes war. [5] Darüber hinaus wären die Konsumenten auch und gerade dann in den Blick zu nehmen, wenn es sich um eine kleine und unauffällige Gruppe handelte: Was sagt es über das Kaiserreich und die Weimarer Republik aus, wenn Bürger privat und lange Zeit ungehindert Rauschmittel einnahmen, die sie von ihrem Arzt oder Apotheker erworben hatten? Schließlich könnten der Machtanspruch wissenschaftlicher Experten, die gesundheitspolitischen Zentralisierungstendenzen nach dem Ende des Kaiserreichs und die verbreitete Sehnsucht nach autoritärer Festlegung und Entscheidung einbezogen, zum Teil - etwa im Hinblick auf die Aktivitäten des Reichsgesundheitsamts - auch empirisch untersucht werden, um die Drogengesetzgebung und ihre Verschärfungen besser zu erklären. Eine konstruktivistische, diskurs- wie praxisgeschichtliche Analyse von Drogen und Drogensucht in der Weimarer Republik wäre lohnend. Sie müsste auf der gelungenen Arbeit von Annika Hoffmann aufbauen, die zeigt, auf welch schwachen Füßen die aus einigen herausgehobenen Fällen gefolgerte Annahme einer "Drogenwelle" steht.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Thomas W. Kniesche/Stephen Brockmann (Hg.): Dancing on the Volcano. Essays on the Culture of the Weimar Republic, Columbia 1994; Tanz auf dem Vulkan. Die goldenen 20er in Bildern, Szenen und Objekten. Sonderausstellung des Landesmuseums für Technik und Arbeit in Mannheim vom 10. September bis 31. Januar 1995. Begleithefte zur Ausstellung.
[2] Sie kritisiert u. a. Birgit Bolognese-Leuchtenmüller: Geschichte des Drogengebrauchs. Konsum-Kultur-Konflikte-Krisen, in: Beiträge zur Historischen Sozialkunde 1 (1992), 4-18; Alexander Kupfer: Göttliche Gifte. Kleine Kulturgeschichte des Rausches seit dem Garten Eden, Weimar 1996, teilweise auch Michael de Ridder: Heroin - vom Arzneimittel zur Droge, Frankfurt a. M. 2000.
[3] Anregend Jakob Tanner: Rauschgiftgefahr und Revolutionstrauma. Drogenkonsum und Betäubungsmittelgesetzgebung in der Schweiz der 1920er Jahre, in: Sebastian Brändli u. a. (Hg.): Schweiz im Wandel. Studien zur neueren Gesellschaftsgeschichte, Basel/Frankfurt a. M. 1990, 397-416.
[4] Vgl. z. B. Eine Morphinistin "geht um", B.Z. am Mittag, 28.1.1930; Benjamin Robinson: "Ist Knastschieben denn schön?". Hans Fallada und die Krise des Willens in der Weimarer Republik, in: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hg.): Die "Krise" der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M./New York 2005, 347-364.
[5] Martin H. Geyer: Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne: München 1914-1924, Göttingen 1998, 273-277.
Moritz Föllmer