Rezension über:

Jan Ulrich Büttner: Asbest in der Vormoderne. Vom Mythos zur Wissenschaft (= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt; Bd. 24), Münster: Waxmann 2004, 332 S., ISBN 978-3-8309-1402-0, EUR 25,50
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Rezension von:
Marco Schrul
Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität, Jena
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Marco Schrul: Rezension von: Jan Ulrich Büttner: Asbest in der Vormoderne. Vom Mythos zur Wissenschaft, Münster: Waxmann 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 9 [15.09.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/09/7039.html


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Jan Ulrich Büttner: Asbest in der Vormoderne

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"Magic Mineral to Killer Dust" überschrieb Geoffrey Tweedale seine 2000 veröffentlichte Studie über die Geschichte der industriellen Asbestverarbeitung in Großbritannien. [1] In der Tat prognostizierte jüngst eine im British Medical Journal veröffentlichte Studie, dass vermutlich jeder hundertste Brite, der in den 1940er-Jahren geboren wurde, an dem fast ausschließlich durch Asbest verursachten Pleura-Mesotheliom [2] sterben wird. Die Studie ist ein aktueller Beleg dafür, dass die hohe Gesundheitsgefährdung, welche durch die industrielle Verarbeitung und massenhafte Nutzung von Asbest seit den 1860er-Jahren entstanden ist, die Bezeichnung "Killer Dust" rechtfertigt. Neben Tweedale haben in der letzten Zeit u. a. Jock McCulloch und Barry I. Castleman Einzelstudien zur Asbestgeschichte Australiens, Südafrikas und den USA im Industriezeitalter vorgelegt.[3] Insgesamt dominieren jedoch vor allem für die vorindustrielle Zeit nach wie vor kürzere und weniger quellenbasierte historische Einlassungen von Medizinern sowie von Gewerkschafts- und Opfervertretern die Veröffentlichungen zum Thema Asbest. [4]

Schon in Anbetracht der zahlreichen "Blüten", die diese Asbestgeschichte hervorgetrieben hat, gleicht die 2004 unter dem Titel "Asbest in der Vormoderne" veröffentlichte Dissertation von Jan Ulrich Büttner einer Art wissenschaftlichem Befreiungsschlag. Systematisch folgt er den verschiedenen Spuren des Asbests in den Textquellen und Darstellungen von der Antike bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts - von Sotakos über C. Plinius Secundus zu Albertus Magnus, Georgius Agricola, Johannes Kentmann und Anselm Boetius de Boodt bis zu den Chemikern und Mineralchemikern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.

In der Fragestellung beschränkt sich Büttner jedoch nicht auf die historische Entwicklung der Kenntnisse und Nutzungen des Asbests. Vielmehr stellt er die Wahrnehmung von Asbest als Bestandteil der Natur in ihren verschiedenen Erscheinungsformen in den Vordergrund. Somit ist die Arbeit gleichzeitig auch als Untersuchung zur vormodernen Naturgeschichte und Wissenschaftsgeschichte der Mineralogie angelegt. Dies spiegelt sich in der Bezeichnung der chronologisch geordneten Kapitel wider: Büttner folgt zunächst den antiken "Anfängen abendländischer Asbestkenntnis", widmet sich dann der Frage nach "Erfahrung und Erfindung? Neue feuerfeste Fasern" im Frühmittelalter, um schließlich das spätmittelalterliche Bedürfnis "Nachzehren und Ausschmücken" zu analysieren. Mit dem Kapitel "Sammeln ohne Bewertung?" über die Anfänge der naturgeschichtlichen Mineralogie im 16. Jahrhundert beschreibt Büttner den ersten Bruch in der traditionellen Wahrnehmung von Natur am Beispiel des Asbests. Diesem folgt die Zeit des Übergangs im 17. Jahrhundert, in der "Erfahrung und Überlieferung" noch nebeneinander bestehen, während im Kapitel "Erfahrung ohne Überlieferung" beschrieben wird, wie die Naturwissenschaft im 18. Jahrhundert erneut ihre Geschichte verliert. Im Kern geht es Büttner somit um einen doppelten Bruch, den er jeweils als "Verlust einer gesamten Tradition der Naturwahrnehmung" (246) bezeichnet. Letztlich werde die von Büttner als "Beschreibung (historia) einer geschaffenen, jeder Entwicklung enthobenen vollkommenen Natur" definierte vormoderne Naturgeschichte ersetzt durch eine "Beschreibung von entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhängen und Abläufen". Dieses Ende der vormodernen Naturgeschichte führte zum "Zerfall einer einheitlichen geologischen Wissenschaft", die auf chemische und physikalische Analysemethoden reduziert wurde. (246 f.)

Neben den erwähnten Kapiteln zur Geschichte des Asbests in der Vormoderne wird der Band ergänzt durch einen kurzen Ausblick auf die Geschichte des Asbests in der industriellen Produktion sowie fünf Exkurse. Im letzten Exkurs "Eine Blütenlese zur Asbestgeschichte" vollzieht Büttner noch einmal die praktische Anwendung seiner Arbeit, indem er auf Grundlage seiner umfassenden und akribisch recherchierten Forschungsergebnisse dezidiert einige der eingangs erwähnten falschen Darstellungen und Legenden aus der Asbestgeschichte in den Blick nimmt. So setzt er sich z. B. mit der Behauptung auseinander, die Gesundheitsgefährdung von Asbest sei nach einer Überlieferung durch Plinius den Jüngeren bereits im antiken Rom bekannt gewesen (Irving J. Selikoff) bzw. sogar als Sklavenkrankheit klassifiziert gewesen (Barry I. Castleman). Nach Büttners Erkenntnis findet sich jedoch hierauf kein Hinweis in den Briefbänden des C. Plinius Secundus. Lediglich an einer Stelle wird über eine Straßenstaub-Erkrankung des Haussklaven Encolpius, einem Vorleser Plinius des Jüngeren aus vornehmer Abstammung, berichtet. Zudem fehlt Büttner zufolge nach wie vor ein konkreter Hinweis für einen umfassenden Abbau bzw. eine serienmäßige antike Asbestverarbeitung. (249 f.) Erst im Zuge der industriellen Verarbeitung mehrten sich so die Hinweise auf die Gesundheitsgefährdung. So veröffentlichte der englische Arzt H. Montague Murray 1900 den ersten sicheren pathologischen Befund einer Asbestose (263 f.). Eine intensive medizinische Erforschung und Diskussion erfolgte erst seit Mitte der 1920er-Jahre.

Die Vorzüge der Arbeit liegen auf der Hand: Dank der umfassenden und systematischen Erschließung aller bekannten und relevanten Texte sowie ihrer sachkundigen Einordnung und Interpretation ist es nunmehr möglich, auf gesicherte Kenntnisse zur vorindustriellen Asbestgeschichte zurückzugreifen. Ob für diesen Zeitraum die Bezeichnung "Vormoderne" treffend gewählt ist, sei dahingestellt. Zudem leistet Büttner mit seiner Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Naturwahrnehmung im Bereich der Mineralogie. Noch stärker diskutiert werden könnte dagegen die sozialgeschichtliche Dimension der Asbestgeschichte, v. a. im Übergang zwischen vorindustrieller Nutzung und industrieller Produktion. Provokativ könnte man hier die zunächst eher privilegierte Nutzung des Asbests der späteren massenhaften Verfügbarkeit und Nutzung mit all ihren Konsequenzen gegenüberstellen.

Bleibt zu bemerken, was für die historische Umweltforschung als eher ungewöhnlich gelten kann: Nachdem der Mediävist Jan Ullrich Büttner die vorindustrielle Asbestgeschichte umfassend untersucht hat, sind nun Neuere Geschichte und Zeitgeschichte am Zug. Noch immer fehlt eine umfassende zusammenhängende Untersuchung und Darstellung der deutschen Asbestgeschichte für diesen Zeitraum. An - bisher oft noch nicht erschlossenen - Quellen hierfür dürfte es jedenfalls nicht mangeln.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Geoffrey Tweedale: Magic mineral to Killer Dust. Turner& Newall an the asbestos hazard, Oxford 2000.

[2] Vgl. Julian Peto u. a.: Radical surgery for mesothelioma. The epidemic is still to peak and we need more research to manage it, in: British Medical Journal 328 (2004), 237 f.

[3] Vgl. Jock McCulloch: Asbestos - its human cost, St. Lucia 1986; Ders.: Asbestos blues. labour, capital, physicians & the state in South Africa, Oxford / Bloomington 2002; Barry I. Castleman: Asbestos. Medical and legal aspects, New York 1984 (zuletzt 2005).

[4] Dies gilt u. a. auch für Klaus Weber: Der Asbestos-Skandal, in: Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts (Hg.): Arbeitsschutz und Umweltgeschichte, Köln 1990, 150-156.

Marco Schrul