Geneviève Espagne / Bénédicte Savoy: Aubin-Louis Millin et l'Allemagne. Le Magasin encyclopédique - Les lettres à Karl August Böttiger (= EUROPAEA MEMORIA. Studien und Texte zur Geschichte der europäischen Ideen. Reihe I: Studien; Bd. 41), Hildesheim: Olms 2005, 594 S., ISBN 978-3-487-12871-9, EUR 88,00
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Der französische Gelehrte Aubin-Louis Millin (1759-1818) darf auf Grund seines Lebens und Werks zu Recht mit dem Präfix "Universal-" versehen werden: Archäologe, Kunsthistoriker und als solcher sowohl Museumskurator als auch Hochschullehrer, Verfasser von naturhistorischen Schriften und Publizist - um die bekanntesten Tätigkeitsfelder zu erwähnen. Millins Karriere ist untrennbar mit dem "Magasin encyclopédique" verbunden, dass er in den Jahren 1795 bis 1816 sowohl verfasste als auch herausgab. Dieses avancierte in den postrevolutionären Wirren zu dem zentralen französischen Gelehrtenorgan und übernahm damit die Position, die zuvor das bereits 1665 gegründete, 1792 eingestellte und erst nach dem Wiener Kongress 1816 wieder belebte "Journal des Savants" innehatte.
Die Amienser Germanistin Geneviève Espagne und die ebenfalls in Frankreich germanistisch geschulte Berliner Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy haben sich nun mit der Publikation zu Millin und Deutschland dieser Schlüsselfigur des gelehrten Europas um 1800 angenommen und dessen Rezeption und Gelehrtennetzwerk jenseits des Rheines einer genaueren Untersuchung unterzogen. Ihre Beschäftigung mit dem Thema entwickelte sich aus einem wissenschaftlichen Kolloquium zu Millin, das der germanistische Fachbereich der Universität der Picardie Jules Verne in Amiens im Dezember 2002 organisierte. Das vorliegende Resultat vereint zwei Gattungen der wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die normalerweise getrennt vorgelegt werden: die eines Sammelbandes und die einer Quellenedition. Diese Zweiteilung gibt der Untertitel wieder - den Tagungsbeiträgen folgt Bénédicte Savoys Edition der Briefe Millins an seinen deutschen Korrespondenten, den zunächst in Weimar als Gymnasialdirektor und später in Dresden als Leiter der Antikensammlung tätigen Karl August Böttiger (1760-1835).
Die zwölfseitige Einleitung der Mitherausgeberin Geneviève Espagne (I-XII) umreißt konzise den Forschungsstand zu Millin und skizziert den intellektuellen Rahmen der hier vorgelegten Forschungsergebnisse zu Millin. Es folgen nicht weniger als 13 vielschichtige so genannte "Studien", die in sich nochmals logisch nach der germanophilen Grundeinstellung Millins, seiner Korrespondenz und, im Zusammenhang mit dem "Magasin encyclopédique", nach seinem gelehrten Austausch und nach der Wahrnehmung der Literatur und der deutschen Ästhetik in der Zeitschrift unterteilen ließen.
Alain Ruiz von der Universität Bordeaux III setzt im ersten Kapitel den Auftakt zu den folgenden Studien, indem er in seinem Artikel zu den deutschen Freunden und Besuchern Millins in Paris zwischen Thermidor, dem Sturz Robespierres, und der postnapoleonischen Restauration, deren Grundhaltungen, Motive und Perspektiven aufzeigt (5-57). Er entwirft auf den über 50 Seiten ein historisches Panorama, in das er aussagekräftige Berichte berühmterer Namen wie Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und von weniger geläufigen wie Karl Benedikt Hase alias Charles Benoît Hase (1780-1864) einarbeitet, die nicht weniger von Bedeutung sind.
Das folgende Kapitel behandelt die Korrespondenz Millins. Die Inhalte und Mittel des archäologischen Wissensaustausches zwischen Millin und Böttiger analysiert die Mitherausgeberin Bénédicte Savoy in ihrem einleitenden Beitrag (61-77), der sich zugleich als grundlegende Rahmenabhandlung für ihre spätere Briefquellenedition lesen lässt. Sie arbeitet heraus, dass Millins Gelehrsamkeit von den deutschen Zeitgenossen nicht zuletzt deshalb so hoch angesehen wurde, weil diese sich im Gegensatz zu der anderer Franzosen durch "teutsche Gründlichkeit" (61) auszeichnete. Von französischer Seite hingegen wurde Millin für seine "Germanomanie" (77) gescholten.
Dass Millin daneben als Archäologe eine entscheidende Vorbildfunktion für Böttiger zukam, präsentiert gleich danach René Sternke von der Universität Rouen (79-93). Böttiger trachtete danach, Millins Person und Wirken der deutschen Öffentlichkeit zeitnah zu vermitteln. Böttigers Augenmerk lag dabei vor allem auf Millins Lehrtätigkeit als Archäologe; dieser hielt ab 1795 den ersten öffentlichen Kurs zur Archäologie im Cabinet des Médailles angesichts der dort befindlichen Originale ab, dem eine Publikation mit dem Titel "Introduction à l'étude des monuments antiques" 1797 folgte.
Der Millin-Böttiger'sche Briefwechsel wurde via dem mindestens zweisprachigen Strassburg versendet, wie Marie-Renée Diot-Duriatti (Universität Amiens) belegt (95-106). Dort vermittelte zwischen Frankreich und Deutschland der im Gegensatz zu seinem bekannteren Bruder Johann Friedrich Oberlin heute fast vergessene Philologe Jérémie Jacques beziehungsweise Jeremias Jakob Oberlin (1735-1806) nach der Seine und über den Rhein hinweg, wie die Autorin anhand ausgewählter Briefstellen pointiert herausstellt.
Das Kapitel zur Korrespondenz Millins wird schließlich von Cecilia Hurleys (Neuchâtel) Beitrag zur genealogischen Entwicklung des "Magasin encyclopédique" vor dem Hintergrund von Millins kosmopolitischen Mitarbeitern und Kulturvermittlern (106-119) abgeschlossen. Er bildet zugleich den inhaltlichen Übergang zu dem folgenden Kapitel, der den wissenschaftlichen Austausch mit Deutschland in dieser Zeitschrift behandelt. Zunächst beleuchtet Franz Dumont von der Universität Mainz die Rolle des "Magasin" in der Kontroverse deutscher und französischer Mediziner darüber, ob der Gebrauch der Guillotine im revolutionären Frankreich als barbarisch oder human zu betrachten sei (123-146). Immerhin lehnte die europäische Aufklärung, aus der das ideelle Gedankengut der französischen Revolution hervorgegangen war, diese Gerätschaft klar als inhuman ab.
Pascale Hummels (Lyon) erläutert anschließend die Veröffentlichung philologischer Beiträge in Umfang und Distribution in den verschiedenen Rubriken der Zeitschrift. Die Lektüre ihrer ansonsten interessanten Darstellung wird allerdings durch einen überbordenden Anmerkungsapparat erschwert. Der zur Zeit des Erscheinens des "Magasin" sich als Disziplin entwickelnden Orientalistik ist Pascale Rabaults (Aix-en-Provence) nachfolgender Artikel gewidmet (161-189). Der Zeitschrift kam dabei eine zentrale Funktion für die Verbreitung orientalistischen Wissens innerhalb eines internationalen Gelehrtennetzwerkes zu. Anschaulich sind hierfür drei Anhänge zur Wissensvermittlung beigefügt: die ersten beiden für Geisteswissenschaftler eher ungewöhnlich als grafisches Schema bzw. als statistische Tabelle und schließlich eine überblicksmäßige Auflistung der einschlägigen Veröffentlichungen. Eine solche, jedoch im Hinblick auf die Berichte zu deutschen historischen Werken im "Magasin", hat auch Gérard Laudin (191-214) von der Universität Paris IV erarbeitet, die er nach einer historiografischen Grundlegung in seinem Beitrag bietet. Dem Einsatz der Übersetzung als Mittel der französisch-deutschen Kulturvermittlung geht Sylvie Le Moël (Universität Tours) im letzten Abschnitt des Kapitels nach (215-232) und spürt dabei deren mannigfaltige linguistische, kognitive und ästhetische Aspekte auf.
Die letzten drei Beiträge stehen im Zusammenhang mit der Wahrnehmung deutscher Literatur und Ästhetik im "Magasin". Geneviève Espagne fragt zunächst nach der Position des "Magasin" im Spannungsfeld zwischen Empfindsamkeit und Vorromantikern und wirft dabei neues Licht auf literarische Persönlichkeiten wie Wieland und den dauerhaft in Deutschland lebenden französischen Exilanten Charles de Villers (233-252). Ebenfalls personenbezogen ist Michel Grimbergs (ebenfalls Universität Amiens) Artikel zur Rezeption Schillers im "Magasin" (253-268), der dabei stark quellenorientiert argumentiert. Dem Grandseigneur des Kulturtransfers, Michel Espagne (Ecole normale supérieure), gelingt schließlich eine knappe aber präzise Skizze zum deutschen Kunstdiskurs mit besonderem Augenmerk auf Winckelmann in der Zeitschrift (269-289).
Es folgen Karl August Böttigers Briefe an Millin aus den Jahren 1797 bis 1817 (287-556), also bis kurz vor dem Tode des Briefempfängers, die allein ungefähr die Hälfte des Bandes ausmachen. Bénédicte Savoy konnte diese in Dresden (Sächsische Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek), Nürnberg (Germanisches Nationalmuseum) und Göttingen (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek) lokalisieren; von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben sich die Gegenbriefe jedoch im umfangreichen Korrespondenzkorpus Millins, der in 28 Bänden in der Bibliothèque nationale in Paris aufbewahrt wird, nicht erhalten (289). Der Mitherausgeberin des Bandes gelingt mit dieser Edition die Bereitstellung einer Fülle hochinformativer Quellen zur zeitgenössischen Archäologie, Kunst-, Literatur- und Editionsgeschichte, wie sie mit ihrem Anmerkungsapparat andeutet. Wissenschaftler der einschlägigen Fächer werden diese Edition in den nächsten Jahren sicher schätzen und für ihre eigenen Forschungen weiter ausschöpfen.
Fast verschämt versteckt sich gleich nach den Briefen eine Chronologie zum Leben und Werk Millins (557-558), die man eher zu Anfang des Bandes erwarten würde. Eine übergreifende Bibliografie der in den Beiträgen und in den Briefen zitierten Quellen und Literatur sucht man stattdessen am Ende des Bandes vergebens - sie würde dessen Handhabung ungemein erleichtern. Unverständlich beziehungsweise für den Leser umständlich ist das Vorhandensein von zweierlei Personenregistern, die, obwohl sich in vielen Personen überschneidend, streng nach Studien und Briefen trennen. Zudem sind die Nachweisarten uneinheitlich; während ersteres Register numerisch die entsprechenden Seiten auflistet, verweist das Zweite auf die Briefnummern. Letzteres ist zwar im Falle einer Quellenedition sinnvoll und zumeist Standard, gerade weil hier aber zweierlei Publikationsformen nicht ohne Reiz miteinander gekreuzt vorliegen, wäre eine Vereinheitlichung sinnvoll gewesen.
Ein Wort zur Buchgestaltung zum Schluss. Es ist sicher Kostengründen und den Gestaltungsvorgaben der Reihe zuzuschreiben, wenn ein solcher Sammelband in Broschur mit einfachem weißem Pappumschlag erscheint, der wohl in erster Linie von Staats- und Institutsbibliotheken erworben werden wird. Umso mehr kann es einem Leid tun, dass der empfindliche Buchrücken und -umschlag kaum häufiges Kopieren aushalten wird. Den Artikeln und der Briefedition dazwischen kann man trotzdem nur häufige Konsultation wünschen: sie haben es inhaltlich verdient.
Hildegard Wiegel