Arnd Bauerkämper / Konrad H. Jarausch / Marcus M. Payk (Hgg.): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945-1970, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 335 S., ISBN 978-3-525-36285-3, EUR 24,90
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Lange Zeit war der Begriff des Wunders in der westdeutschen Nachkriegszeit eindeutig besetzt: Die große Mehrheit der Deutschen sah im so genannten "Wirtschaftswunder" den erstaunlichsten Vorgang der Jahre nach 1945. Mindestens ebenso erklärungsbedürftig sind jedoch die erfolgreiche Etablierung eines demokratischen Staatswesens und die Verankerung demokratischer Werte in der westdeutschen Gesellschaft. Dieses "Demokratiewunder", so der Titel des von Arnd Bauerkämper, Konrad H. Jarausch und Marcus M. Payk herausgegebenen Sammelbandes, rückt seit einigen Jahren verstärkt ins Blickfeld der Historiker. Erst seit kurzem richtet die Zeitgeschichte ihren Blick über die inzwischen recht gut erforschten institutionellen und formalen Grundlagen der westdeutschen Demokratie hinaus auf deren politisch-kulturellen Dimensionen.
Das erklärte Ziel des Bandes ist denn auch die Untersuchung dieser "inneren Demokratisierung", die als dynamische, offene und nicht zielgerichtete Entwicklung verstanden und gezeigt werden soll. Die USA hatten maßgeblichen Einfluss auf den Verlauf und die Inhalte dieses Prozesses. Im Mittelpunkt des Bandes stehen daher "transatlantische Mittler", die als Bindeglieder zwischen den USA und der westdeutschen Gesellschaft fungierten. Die hohe Anzahl solcher kompetenter Vermittler bildete eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass sich trotz Kontinuitätslinien zur NS-Gesellschaft, totaler Niederlage und Besatzung eine tragfähige und in weiten Teilen der Gesellschaft akzeptierte Demokratie entwickeln konnte.
Die ganze Bandbreite institutioneller und kultureller Rahmenbedingungen wird in zwei einführenden Aufsätzen von Hermann Josef Rupieper und Konrad H. Jarausch dargestellt. Es folgen neun Fallstudien zu Gruppen und Einzelpersonen aus den Kategorien "Besatzungsbehörde", "Journalisten und Intellektuelle" sowie "Politikwissenschaftler und Juristen", die in unterschiedlicher Form zum Demokratietransfer nach 1945 beitrugen. Vorgestellt werden deutsche und amerikanische Funktionseliten und Multiplikatoren, die auf Grund ihres biografischen Hintergrundes besonders geeignet waren, Werte und Normen der amerikanischen Kultur in den spezifisch westdeutschen Kontext zu transferieren.
Dabei wird deutlich, dass zur erfolgreichen Implementierung westlicher Werte nicht nur beitrug, wer die USA und ihre Form der Demokratie als uneingeschränktes Vorbild ansah. Dies zeigen besonders die vergleichend angelegten Beiträge des Sammelbandes wie der von Arnd Bauerkämper. Er untersucht die deutsche Politikwissenschaft am Beispiel von Arnold Bergstraesser und Ernst Frankel, die beide mehrere Jahre im amerikanischen Exil verbrachten. Bergstraesser gewann in dieser Zeit zwar eine positivere Einstellung zur Demokratie, blieb aber weiter einem eher autoritären und normativen Staats- und Politikverständnis verhaftet. Mit seiner ambivalenten Haltung gegenüber der amerikanischen Dominanz in Westeuropa und seinem eher traditionalen Politikverständnis überbrückte er jedoch die Diskrepanz zwischen den obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen der meisten Westdeutschen und der Idee einer pluralistischen Demokratie im Sinne der USA, wie sie Ernst Frankel verfolgte. Solche weiter reichenden, vielfach zuerst als fremd empfundenen Konzepte konnten sich langfristig durchsetzen, weil es moderatere, anknüpfungsfähigere Wegbereiter wie Bergstraesser gab. Zusammen stehen die beiden Politikwissenschaftler für "einen Lernprozess, der in den späten sechziger Jahren in einen tief greifenden politisch-gesellschaftlichen Umbruch mündete" (277).
Der Beitrag von Maria Höhn zu "afro-amerikanischen GI's, deutschen Frauen und den Grenzen der Demokratie" zeigt exemplarisch die Rückkopplungsmechanismen auf, die im Transferprozess zwischen den USA und Westdeutschland entstehen konnten: Die US-Armee, eigentlich als "Botschafter der Demokratie" nach Deutschland entsandt, trug durch die Diskriminierung schwarzer Soldaten selbst zutiefst undemokratische Züge. Die in Deutschland legalen Beziehungen zwischen afro-amerikanischen GI's und weißen Frauen legten diese spezifisch amerikanische Form des Rassismus als Demokratiedefizit offen. Deutsche Kritiker solcher Beziehungen konnten sich in ihrer Ablehnung zudem auf die USA als Vorbild berufen. Auf beiden Seiten des Atlantiks lösten die Verbindungen Debatten aus, die den Blick auf getrennte, aber parallel verlaufende Lernprozesse in beiden Gesellschaften freigeben. Dabei wurden nicht nur demokratische Wertevorstellungen aus den USA in die Bundesrepublik transferiert, auch die USA mussten sich mit den "Grenzen ihrer eigenen Demokratie" (127) auseinandersetzen.
Der Demokratisierungsprozess bestand in den seltensten Fällen aus der einfachen Übernahme amerikanischer Konzepte und Werte. Meist handelte es sich um unterschiedliche Mischungsverhältnisse deutscher und amerikanischer Traditionen. Als Beispiel für die Suche nach einem eigenständigen Demokratiemodell können die "engagierten Demokraten" im Bereich der Publizistik gelten, die Sean A. Forner untersucht hat. Für sie bildete die Besatzung den Rahmen, der die Chance für eine eigene, aus Deutschland erwachsende demokratische Erneuerung bot. Die praktische Zusammenarbeit der Publizisten mit den US-Besatzungsbehörden ging einher mit starken Abgrenzungsbestrebungen im theoretischen Bereich, die auch Kritik an westlichen Demokratiemustern und -praktiken einschließen konnte. Diese Gruppe sei nicht als Verhinderer oder Vermittler westlicher Demokratiekultur anzusehen, so Forner, sondern als "Fürsprecher einer eigenständig deutschen demokratischen Alternative" (188). Er plädiert damit für eine Relativierung der bisher vorherrschenden Gleichsetzung von "Verwestlichung" und "Demokratisierung".
Nicht immer ist im beschränkten Rahmen eines Sammelbandbeitrags eine umfassende Aufarbeitung des Untersuchungsgegenstandes möglich. Dies betrifft vor allem die vorgestellten Gruppenakteure - hier wären teilweise weiter führende Informationen und Einordnungen wünschenswert gewesen. So gerät das Bild gelegentlich etwas zu holzschnittartig, beispielsweise wenn Brian M. Puaca in seiner Untersuchung zu deutschen Austauschlehrern und -schülern nur die Berichte der Amerikareisenden auswertet, sie aber kaum quellenkritisch verortet und die deutsche Überlieferungsseite unbeachtet lässt. Über Art und Umfang der Wirksamkeit des Austauschs, der sich demokratiefördernd im Schulbereich auswirken sollte, ist damit noch nicht viel gesagt.
Insgesamt demonstriert der Sammelband eindrücklich das Potenzial des kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Ansatzes für die Analyse des Demokratisierungsprozesses in Westdeutschland und eröffnet eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven auf seine Akteure und Wege. Für die künftige Forschung bietet er zahlreiche Anregungen für weitere Vertiefungen, beispielsweise mit Blick auf die hier nicht berücksichtigten außeramerikanischen Einflüsse und auf die Grenzen des Demokratisierungsprozesses durch weiter fortlebende oder sich neu ausbildende Resistenzkräfte.
Reinhild Kreis