Rezension über:

Philipp Springer: Verbaute Träume. Herrschaft, Stadtentwicklung und Lebensrealität in der sozialistischen Industriestadt Schwedt (= Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin: Ch. Links Verlag 2006, 823 S., ISBN 978-3-86153-396-2, EUR 39,90
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Rezension von:
Peter Hübner
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Empfohlene Zitierweise:
Peter Hübner: Rezension von: Philipp Springer: Verbaute Träume. Herrschaft, Stadtentwicklung und Lebensrealität in der sozialistischen Industriestadt Schwedt, Berlin: Ch. Links Verlag 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/11094.html


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Philipp Springer: Verbaute Träume

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Außergewöhnlich sei die Stadt Schwedt in vielerlei Hinsicht, konstatiert Philipp Springer einleitend. Als "typische" DDR-Stadt tauge sie keineswegs. Gleichwohl hofft der Autor gerade in den Extremen das Verallgemeinerbare finden zu können, denn immerhin seien "Gesicht und Biografie von Schwedt [...] wie die kaum einer anderen Stadt durch die Jahre in der DDR geprägt" (11). Tatsächlich ist die im Nordosten Deutschlands an der Oder gelegene brandenburgische Stadt in weiten Teilen eine Schöpfung der späten Fünfziger-, Sechziger- und Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Kurz vor Kriegsende 1945 stark zerstört, wuchs Schwedt bis Mitte der Fünfzigerjahre wieder auf rund 7.000 Einwohner an. Der dann beginnende Neubau eines Erdölverarbeitungskombinats und eines großen Papier- und Kartonagenwerkes machte die Stadt zu einem wichtigen Industriestandort der DDR. Allein schon in der Entwicklung der Einwohnerzahl (1950: 6.500; 1960: 20.000; 1971: 34.000; 1981: 52.000; 1989: 50.000; 2004: 38.000) deutet sich eine spannende Geschichte an.

Ihr geht Philipp Springer in diesem Buch nach, einer Dissertation an der Technischen Universität Berlin. Wie der Verfasser die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dimensionen des Themas auslotet, beweist ein sicheres Gespür für innovative Fragestellungen und ergiebige Quellen. Überhaupt verleiht das souverän gemixte Material aus Beständen des Bundesarchivs, der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, des Stadtarchivs Schwedt, Dokumenten aus Firmen- und Privatarchiven bis hin zu mehr als 30 Interviews dieser Lokalstudie eine beeindruckende Tiefenschärfe.

Das Buch ist nach systematischen Gesichtspunkten gegliedert. Zunächst skizziert Springer die wenig komfortable Situation Schwedts vor dem näher betrachteten Zeitraum von 1958 bis 1989. Es folgen vier Hauptkapitel zu den Betrieben in der Stadt, der Planungs- und Baugeschichte des neuen Schwedt, zu den politischen Herrschaftsstrukturen auf der kommunalen Ebene und schließlich zum Alltag der Bewohner. Ein weiteres Kapitel zeigt, wie sich das Bild von Schwedt in der Außen- und Binnenperspektive wandelte. Im knappen Schlussteil resümiert der Autor die Entwicklung von Stadt und Wirtschaft vom Baubeginn des Petrochemischen Kombinats (PCK) bis zum Ende der DDR als "Geschichte des Auf- und Abstiegs einer Kommune im Sozialismus" (779). Den Wendepunkt sieht er in der Drosselung der Erdölimporte aus der Sowjetunion zu Beginn der Achtzigerjahre. Deshalb habe sich schon vor 1989 ein leichter Bevölkerungsverlust bemerkbar gemacht. Was die Öllieferungen angeht, ist dem zuzustimmen. Allerdings wird man fragen, ob sich im tendenziellen Rückgang der Bevölkerung nicht auch ein Effekt der seit den späten Siebzigerjahren auf Arbeitskräfteeinsparung gerichteten "Schwedter Initiative" zeigte.

Die Probleme, die sich beim Aufbau des Kombinats und der Papierfabrik ergaben, ähnelten denen, die man bei ähnlichen Gelegenheiten auch in anderen Teilen der DDR antraf. Sie bündelten sich besonders im Hinblick auf die Anwerbung von Arbeitskräften und bei der Inbetriebnahme der Anlagen. Als besondere Konstellation stellt Springer die mehr oder minder offen ausgetragene Konkurrenz der beiden Investitionsvorhaben heraus, wobei auch gut sichtbar wird, wie sehr die Betriebe die Beziehungen zur Stadt dominierten. Auch die Beschäftigung ausländischer - vor allem polnischer - Vertragsarbeiter kommt zur Sprache. Erwähnt wird in dem Zusammenhang, dass es der DDR dabei um die Überbrückung zeitweiliger Beschäftigungsengpässe, nicht jedoch um dauerhafte Integration ging. Zudem versuchte Polen, auf diese Weise den eigenen Arbeitsmarkt zu entlasten und durch Bau- und Montageleistungen Schulden abzutragen.

Mitunter ist Schwedt als "dritte sozialistische Stadt" der DDR apostrophiert worden, nach Stalinstadt/Eisenhüttenstadt und Hoyerswerda-Neustadt. Dies suggeriert, es habe sich um eine langfristig angelegte, homogene Stadtplanung gehandelt. Philipp Springer zeigt nun, dass dem nicht so war. Vielmehr stand der Aufbau der Wohnanlagen von Anfang an völlig im Schatten der Werksneubauten. Erst mit einiger Verzögerung versuchte man gesellschaftspolitische Leitbilder in die städtischen Bauplanungen einzubeziehen. Lesenswert ist die Darstellung des Mit- und Gegeneinander zentraler und kommunaler Interessen, von Architekten und Parteifunktionären, Ästhetik und Kostengesichtspunkten allemal. Man findet hier schöne Beispiele für die Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Wirtschaftsplanung.

Instruktiv werden im folgenden Kapitel die Merkmale politischer Herrschaft auf der kommunalen Ebene dargelegt. Springer zieht diesen Problemkreis sehr weit, von den politischen Akteuren auf den Ebenen der SED und der Stadtverwaltung bis hin zu den Betrieben und Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften wie auch zu den Kirchengemeinden. An exemplarischen Fällen wird das Funktionieren oder auch das Nicht-Funktionieren des politischen Systems der DDR auf jener Ebene beschrieben, mit der die Bevölkerung in dieser oder jener Form tagtäglich zu tun hatte. Hier werden Netzwerk-Strukturen sichtbar, und andeutungsweise zeichnen sich Konturen ab, die an Zusammenhänge erinnern, wie sie in der sozialwissenschaftlichen Forschung für westliche Gesellschaften als Mikrokorporatismus von Betrieben und Kommunen beschrieben wurden. Dies lohnte vertiefende geschichtswissenschaftliche Untersuchungen.

Unaufgeregt und mit Empathie schildert Philipp Springer die Lebensverhältnisse in Schwedt. Er spannt den Bogen vom Wohnen über das Einkaufen bis zur Freizeit und lässt auch den berühmt-berüchtigten "Militärknast" nicht aus. Einprägsam ist das Beispiel der an den sommerlichen Wochenenden zu beobachtenden "Stadtentvölkerung" durch den massenhaften Exodus in die Kleingärten. Hier wie generell vermeidet der Autor eindimensionale Erklärungen und sucht stattdessen nach verschiedenartigen Ursachen und Gründen. Insgesamt entsteht eine Bilderfolge von bemerkenswerter Normalität. Nicht zu übersehen ist allerdings, wie sich deren Farben allmählich eintrüben: Eine positive Aufbruchstimmung geht kaum merklich über in eine gewisse Resignation. Der die späte DDR kennzeichnende Utopieverlust ist hier mit Händen zu greifen.

Springer ist mit diesem Buch die bisher vielleicht differenzierteste und facettenreichste Darstellung von Gesellschaft und Alltag in einer jener Industriestädte der DDR gelungen, in denen die sozialistische Gesellschaft, ohne zunächst viel Rücksicht auf ältere Siedlungs- und Stadtkerne zu nehmen, nach einem eigenen städtebaulichen Ausdruck suchte. Ein Vergleich mit Stalinstadt/Eisenhüttenstadt und Hoyerswerda mag auf der Hand liegen, hätte jedoch den konzeptionellen Rahmen der Arbeit gesprengt. Eine solche thematische Erweiterung vom Autor zu fordern, wäre unbillig. Die Leser jedenfalls erwartet eine sachlich fundierte, gut durchkomponierte, stilistisch überzeugende und insgesamt gut lesbare Darstellung. Ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis beschließt den Band.

Peter Hübner