Rezension über:

Ralf C. Müller: Franken im Osten. Art, Umfang, Struktur und Dynamik der Migration aus dem lateinischen Westen in das Osmanische Reich des 15./16. Jahrhunderts auf der Grundlage von Reiseberichten, Leipzig: Eudora-Verlag 2005, 571 S., 33 Diagr., 12 Tab., 4 Übers., ISBN 978-3-938533-00-0, EUR 79,00
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Rezension von:
Ralf Schlechtweg-Jahn
Lehrstuhl für Ältere Deutsche Philologie, Universität Bayreuth
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Schlechtweg-Jahn: Rezension von: Ralf C. Müller: Franken im Osten. Art, Umfang, Struktur und Dynamik der Migration aus dem lateinischen Westen in das Osmanische Reich des 15./16. Jahrhunderts auf der Grundlage von Reiseberichten, Leipzig: Eudora-Verlag 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 10 [15.10.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/10/8873.html


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Ralf C. Müller: Franken im Osten

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Der Gegenstand der Arbeit sind westeuropäische Migrationsbewegungen in das Osmanische Reich im 15. und 16. Jahrhundert. Dazu wertet Müller 366 Reisebeschreibungen, Gesandtschafts-, Gefangenen- und Pilgerberichte aus. Unter deren Autoren dominieren deutsche Adlige, Bürgerliche stellen die zweitgrößte Gruppe dar. Regional betrachtet kommen 85% der Texte aus dem süddeutschen Raum. Auswahlbedingung ist für Müller wirkliche Augenzeugenschaft: "Die Zeugnisse müssen auf Autopsie beruhen, was Pilgerführer, anonyme Beschreibungen des Heiligen Landes und fiktive Reisebeschreibungen ebenso ausschließt wie die schier unendliche Masse der westlichen Türkenpublizistik" (33).

Die Reiseberichte werden rein pragmatisch als prosopographische Quelle benutzt, was bei diesen Texten aber nicht unproblematisch ist. In seinem Methodenkapitel weist Müller denn auch darauf hin, dass die Forschung zu den Reiseberichten zu großen Teilen aus der Literaturwissenschaft stammt, in der natürlich deren fiktionaler Charakter eine zentrale Rolle spielt. Man bekommt dabei zunächst den Eindruck, als wolle Müller sich an einem interdisziplinären Methodenmix aus Literatur- und Geschichtswissenschaft versuchen, aber von den skizzierten literaturwissenschaftlichen Zugriffen bleibt letztlich wenig übrig.

Das eigentliche methodische Problem ist nun allerdings weniger dieser Verzicht auf die Literaturwissenschaft als vielmehr auf jeden Versuch einer Rekonstruktion einer 'dritten Ebene' als Vermittlungsebene zwischen dem je einzelnen Text bzw. dem Individuum und der Gesamtgesellschaft. Weder Gattungskonventionen, Erzähltopoi, diskursive Muster noch Mentalitäten spielen in Müllers Arbeit wirklich eine Rolle, auch wenn im Methodenkapitel durchaus auf diese dritte Ebene hingewiesen wird und einige Kapitel der Rekonstruktion des historischen Hintergrunds gewidmet sind. Diese Kapitel bleiben aber isolierte Zusammenfassungen bekannter Forschung und werden zur Textinterpretation letztlich nicht herangezogen.

Müller beschreibt sein eigenes Vorgehen als den Versuch, Mentalitätsgeschichte weiter zu entwickeln in Hinsicht auf das Individuum: "Der Akt des Schreibens erweist sich als ein Akt der Offenbarung persönlicher Möglichkeiten, des Könnens und Wollens, als Akt der Selbstoffenbarung in einer konkreten Lage, einer Ausnahmesituation" (18). Im mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhang müsste nun aber die Frage diskutiert werden, wie denn im 16. Jahrhundert ein Individuum sich konstituiert, wie genau also ein Subjekt zustande kommt, das sich anschließend in einem Text wieder entäußern kann. Nur so lässt sich dann auch sinnvoll etwas über die historische Besonderheit von Individuierungsprozessen im 16. Jahrhundert aussagen. Müller neigt aber dazu, das Individuum absolut zu setzen und damit die gesellschaftliche Konstituierung von Persönlichkeit weitgehend zu ignorieren.

Um der Individualität der Autoren auf die Spur zu kommen, baut Müller eine Fülle von teilweise recht umfassenden Nacherzählungen von Lebensläufen einzelner Personen ein, die er häufig aus mehreren Texten rekonstruiert. Das schlichte Nacherzählen kann aber eine Analyse und Interpretation der historischen Kontexte nicht ersetzen, die eine Person erst konstituieren. Problematisch ist auch die Rekonstruktion von Lebensläufen aus mehreren Berichten, wenn man dabei diese Berichte selbst als das literarische Umfeld weitgehend ignoriert, die den Lebensbeschreibungen doch erst eine spezifische Kontur geben, und sie auch in funktionale Zusammenhänge stellen.

Sowohl seine methodischen Überlegungen als auch dieses nacherzählende Vorgehen bestärken Müller in einer letztlich ganz ahistorischen Vorstellung vom Individuum: "Angesichts dieser selbstbewussten und selbstbestimmten Lebenswege, machen sich Zweifel breit, ob dem Mittelalter tatsächlich die neuzeitliche Dichotomie von Individuum und Gesellschaft unbekannt war, oder ob der mittelalterliche Mensch nicht ebenfalls als Individuum existierte" (465). Es ist nun aber nicht nur anachronistisch, von Reiseberichten des 15. und 16. Jahrhunderts auf 'das Mittelalter' zu schließen, sondern auch wenig sinnvoll, mit solchen totalisierenden Begriffen wie 'die Gesellschaft', 'das Mittelalter' und 'das Individuum' zu operieren. Darin geht jede Möglichkeit zur historischen Differenzierung verloren.

Das Verhältnis solcher individualisierenden Lebenslaufnacherzählungen zum statistischen Verfahren der Prosopographie wird methodisch nicht reflektiert und geklärt. Es mag dies aber eine zwingende Folge sein, wenn man das Individuum als gegeben voraussetzt. Nun hat gerade die literaturwissenschaftliche Forschung herausgearbeitet, wie sehr auch Reiseberichte mentalen bzw. diskursiven Mustern und Gattungskonventionen verpflichtet sind. Ohne wenigstens den Versuch zu unternehmen, diese Berichte interpretierend in solche Kontexte einzubetten, ist es aber kaum möglich, das individuell Besondere herauszuarbeiten, worauf Müller doch gerade so großen Wert legt.

Die aus den Berichten extrahierten Lebensdaten erlauben Müller dann einen mehr oder weniger weiten Überblick über Möglichkeiten, Motivationen und Grenzen der Migration ins Osmanische Reich. Für eine statistische Auswertung ist, das sieht auch Müller selbst, die Datenmenge natürlich sehr klein, und angesichts der sozial eng begrenzten Autorschaft auch gewiss nicht repräsentativ für die Gesamtgesellschaft. Die vielen Tabellen und Kuchendiagramme mit ihren Prozentzahlen suggerieren eine Exaktheit, die nicht wirklich gegeben sein kann. Interpretiert man die statistischen Funde vorsichtiger als historische Tendenzen, eröffnet diese Art der Auswertung der Berichte aber einen gewissen Einblick in die damaligen Migrationsvorgänge.

Deutlich wird bei alledem, dass die Migration ins Osmanische Reich eine durchaus attraktive Alternative darstellte und, anders als in der Türkenpropaganda, der Umgang mit der Fremde in der Migration sehr differenziert ausfallen konnte, was überraschenderweise sogar für die Gefangenenberichte gilt. Eine Zweispaltung des Kontinents, so Müller, habe es angesichts solcher Befunde nicht gegeben, das Osmanische Reich sei ein Teil Europas gewesen.

Müllers Anliegen ist durchaus auch ein tagespolitisches, wird doch seit Jahren über die Frage diskutiert, ob die Türkei zu Europa gehört, und deshalb ggf. EU-Mitglied werden kann. Müller bezieht hier entschieden Stellung, und versucht immer wieder zu zeigen, dass das Osmanische Reich ein integraler Bestandteil Europas war. Mir scheint aber doch fraglich, ob diese Ansicht durch Müllers Untersuchung wirklich gestützt wird: die Migrationsbewegungen gingen ganz einseitig nur ins Osmanische Reich, und dessen vergleichsweise offene und tolerante Politik gegenüber Einwanderern änderte sich, wie auch Müller feststellt, schon im 17. Jahrhundert merklich. Angesichts der schmalen Datenbasis erscheinen mir so weitreichende Schlüsse über die Jahrhunderte hinweg dann doch etwas voreilig, für ein umfassenderes Bild wären auch die Handelsströme, politischen Beziehungen und eben nicht zuletzt die dritte Ebene, und zwar im Westen wie im Osmanischen Reich, in die Analyse mit einzubeziehen. Müllers Untersuchung ist aber ein wichtiger Baustein und Ausgangspunkt für diese noch anstehende Arbeit, die ohnehin nur in größeren Forschungsverbünden geleistet werde könnte.

Ein wesentlicher Nutzen der Arbeit über diese Befunde hinaus liegt in der umfassenden Zusammenfassung und Darstellung der recht disparaten und verstreuten Forschung, wobei die vielen Nacherzählungen von Lebensläufen mit ihren teilweise umfangreichen Zitaten einen lebendigen Eindruck von einer nicht immer leicht zugänglichen Literatur vermitteln.

Ralf Schlechtweg-Jahn