Rezension über:

Martin Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das 19. Jahrhundert (= Zugänge zur Kirchengeschichte; Bd. 8), Stuttgart: UTB 2006, 293 S., ISBN 978-3-8252-2789-0, EUR 13,90
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Nicole Priesching
Westfälische Wilhelms-Universität, Münster
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Nicole Priesching: Rezension von: Martin Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das 19. Jahrhundert, Stuttgart: UTB 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 11 [15.11.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/11/10474.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Martin Friedrich: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch

Textgröße: A A A

Überblickswerke zur Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts gibt es bereits viele, wie auch ein Blick in die Literaturauswahl bei Friedrich zeigt. Und auch der "gesellschaftliche Umbruch" gehört eher zum Standardrepertoire der Epochensichtung, hatte doch bereits Gerhard Besier seine 1992 erschienene Darstellung (Religion - Nation - Kultur) mit dem Untertitel versehen: "Die Geschichte der christlichen Kirchen in den gesellschaftlichen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts". Und so versteht auch Friedrich unter diesen Umbrüchen nichts anderes als politisch den "Kampf zwischen Volkssouveränität und Monarchie" (9), wirtschaftlich die Industrielle Revolution mit den sozialen Folgen und kulturell eine fortschreitende Säkularisierung. Wie die Kirche auf diese drei Herausforderungen reagierte, bildet die Leitfrage und das Konstruktionsprinzip des vorliegenden Bandes.

Der Begriff Kirche erscheint dabei absichtsvoll unscharf, handelt der Band doch schwerpunktmäßig von der protestantischen Kirche in Deutschland, andererseits werden "Protestantismus und Katholizismus im Raum der ehemals lateinischen Kirche" (10) behandelt. Besonders unklar ist der Hinweis, Kirche sei zwar nicht von den Institutionen zu lösen, aber auch nicht mit einer identisch (ebd.), da hier der Begriff der "Institution" nicht näher erläutert wird. Letztlich geht es um das Handeln und um das theologische Profil von institutionell gebundenen Gruppen innerhalb des Protestantismus und des Katholizismus, wobei eine gute Zuordnung einzelner Personen in die unterschiedlichen Strömungen geboten wird.

Der Band gliedert sich in vier Teile: Die Französische Revolution als fundamentale Herausforderung (I), Die Kirchen vor den politischen Herausforderungen (II), Die Kirchen vor den kulturellen Herausforderungen (III) und Die Kirchen vor den sozialen Herausforderungen (IV). Man beachte hier wieder den Plural "Kirchen" im Unterschied zum Buchtitel. In die Ereignisse der Französischen Revolution war zunächst nur die katholische Kirche involviert, während die evangelische Kirche als Institution erst mit oder nach der napoleonischen Epoche in Erscheinung trat. In beiden Konfessionen gab es von nun an Strömungen, die sich für mehr Einheit im Inneren einsetzten. So führte eine auf Ausgleich zielende Kirchenpolitik 1807 zu einer Verwaltungsunion, in welcher der reformierte Kirchenrat in Heidelberg und der lutherische Kirchenrat in Karlsruhe von einem gemeinsamen Oberkirchenrat ersetzt wurden (42 f.). Kirchenunion bedeutete hier aber auch mehr staatliche Kontrolle und da waren Viele genauso auf Freiheit von dieser bedacht wie auf katholischer Seite. Parallelen werden auch in der Frömmigkeitsgeschichte sichtbar: Eine protestantische Erweckungsbewegung sorgte im Vormärz genauso für neue religiöse Begeisterung wie eine religiöse Erneuerungsbewegung im Katholizismus. Gemeinsam war ihnen die Aufwertung einer gefühlsbetonten Frömmigkeit. Diese ließ sich von der katholischen Amtskirche als Demonstration ihrer gesellschaftlichen Präsenz (z. B. bei der Trierer Rockwallfahrt 1844) bei Unterdrückung der Gegenströmungen gut einsetzen, während das protestantische Echo mehrstimmiger ausfiel.

Nach Friedrich habe es angesichts der vielfältigen Herausforderungen in beiden Konfessionen "einen Kurs der Balance von Anpassung und Verweigerung" (12) gegeben. Gerade in den Extremen zeigen einzelne protestantische Gruppen und Personen ganz erstaunliche Übereinstimmungen mit Positionen von Katholiken. Als Beispiel sei hier nur der katholische Integralismus genannt, der sein Gegenstück im lutherischen Konfessionalismus findet (vgl. 178). Nicht nur Formierung im Innern, sondern auch Abgrenzung nach außen scheint ein wesentliches Merkmal der Zeit gewesen zu sein, die deshalb auch durch eine Verschlechterung des Verhältnisses von Katholiken und Protestanten gekennzeichnet ist. Man könnte als Leser den Eindruck gewinnen, dass dieser Konfessionalismus zwar sachlich wenig gerechtfertigt - glücklicherweise gab es auch jeweils Gegenströmungen -, aber in seiner Funktion eines kirchlichen Identitätskittes im Anbetracht der Lagerbildungen innerhalb der Konfessionen geradezu notwendig war, im heterogenen Protestantismus vielleicht sogar noch mehr als im Katholizismus. Trotz des Schwerpunktes auf die evangelische Kirchengeschichte erscheint die katholische Kirche wie ein roter Faden, welcher der Darstellung eine gewisse Stabilität verleiht.

Den Rahmen des Buches bildet die von Friedrich 2001 aufgestellte These des langen 19. Jahrhunderts als "Epoche der Kirchwerdung", was sich auf die "bemerkenswerte Selbstbehauptung" (12) der Kirche angesichts der genannten Herausforderungen bezieht. Diese Einschätzung beruht auf der Annahme, dass das 19. Jahrhundert ein "säkulares Zeitalter" gewesen sei, was neuere Studien mit Hinweisen auf "das Nebeneinander und Ineinandergreifen vermeintlich vormoderner magisch-religiöser und scheinbar moderner aufgeklärt-zweckrationaler Weltsicht" relativiert haben. [1] Bei der Beurteilung dieser Epoche scheint also noch nicht das letzte Wort darüber gesprochen zu sein, wie stark man die Kontinuität zur Frühen Neuzeit einerseits oder den Bruch von 1789 andererseits gewichten möchte.

Der vorliegende Band ist als Lehrbuch für Studierende gedacht, denen es auch hiermit empfohlen sei, wenn sie nicht bereits mit den Büchern von Kurt Nowak [2] oder Gerhard Besier (s. o.) gut ausgestattet sind. Die gut ausgewählten Zitate geben einen interessanten Einblick in die Sprache der Zeit. Die Darstellung zeichnet sich insgesamt durch eine hohe Informationsdichte mit dem Blick auf das Wesentliche aus. Vor allem der theologiegeschichtliche Überblick ist für Einsteiger sehr hilfreich, werden doch hier grundlegende Breschen durch das Dickicht einer auf hohem Niveau betriebenen Theologie geschlagen, die gerade in konfessionsübergreifender Perspektive interessant sind.


Anmerkungen:

[1] Nils Freytag/Diethard Sawicki: Verzauberte Moderne. Kulturgeschichtliche Perspektiven auf das 19. und 20. Jahrhundert, in: Dies. (Hg.): Wunderwelten. Religiöse Ekstase und Magie in der Moderne, München 2006, 7-24, hier 13 f.

[2] Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 1995.

Nicole Priesching