Lara Perry: History's Beauties. Women and the National Portrait Gallery, 1856-1900 (= British Art and Visual Culture since 1750. New Readings), Aldershot: Ashgate 2006, xi + 199 S., 8 colour, 27 b&w ill., ISBN 978-0-7546-3081-4, GBP 55,00
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Zugegeben, der Titel stimuliert nicht allzu sehr die Neugier, verrät er doch kaum etwas von der völlig neuen Perspektive, aus der Lara Perry die Geschichte einer Sammlung am Beispiel der Londoner National Portrait Gallery erhellt. Sie legt für die zwischen 1856 und 1900 erworbenen weiblichen Porträts nicht den erwarteten Bestandskatalog vor, sondern untersucht Bildnisse des 16. bis 19. Jahrhunderts, die Kunstpolitik des Trusts sowie die Arbeits- und Präsentationsweisen der Galerie im Hinblick auf die viktorianische Konstruktion von Weiblichkeit.
Gegründet wurde die National Portrait Gallery mit dem Auftrag, die englische Geschichte durch hervorragende Einzelpersönlichkeiten zu vermitteln. Die weiblichen Porträts sollten der geltenden Geschlechterpolitik entsprechend die bürgerlich-private, religiöse und literarische Geschichte dokumentieren. Dabei kam es nicht in erster Linie auf den künstlerischen oder Sammlungswert der Bildnisse an, sondern explizit auf die Bedeutung der Modelle. Lara Perry fragt, warum in einer Epoche, die Frauen weitgehend aus dem öffentlichen Leben ausschloss, die weibliche Partizipation an einer für das nationale Selbstverständnis bedeutenden Institution so zielstrebig verfolgt wurde. Ihre zentrale These lautet, dass die Galerie nicht die rühmenswerten, individuellen Leistungen überliefern wollte, sondern ihre Deutungshoheit dazu nutzte, vorherrschende zeitgenössische Weiblichkeitsvorstellungen zu verbreiten.
Zahlreiche Porträts, Erwerbungsberichte, Beschreibungen und Programme des Trusts, Hängepläne der Galerie, Kunstkritiken und einschlägige Lexika bilden das Material, das Perry mit den viktorianischen Diskursen der Weiblichkeit, der Kunst und Nation konfrontiert. Sie behandelt zunächst die Verbindung von Museum, Nationalbestreben und Geschlechterpolitik und widmet dann vier Kapitel sowohl den in die Porträt-Sammlung eingeschriebenen Weiblichkeitsmustern als auch der aktiven Teilhabe der Frauen, sei es als Künstlerinnen oder als Museumsbesucherinnen.
Perry betont, dass Bildnisse englischer Königinnen und Prinzessinnen fast die Hälfte der Sammlung ausmachten. Auf diese Weise sollte das Königshaus als Garant nationaler Dauer und Größe erscheinen. Die Autorin aber deckt auf, dass die weibliche Reproduktionsfähigkeit in Verbindung mit der Kategorie Mütterlichkeit und den damit verknüpften affektiven Qualitäten im 19. Jahrhundert dazu diente, Dynastie und Nation als Familie darzustellen und damit der Öffentlichkeit emotional nahe zu rücken. So wurde eine mütterliche Pose, etwa im Bildnis der Prinzessin und späteren Königin Anne mit ihrem kleinen Sohn (um 1694), ungeachtet der in barocken Herrscherinnenporträts üblichen Rhetorik, als Einlösung der gebotenen zärtlichen Mutter-Kind-Beziehung gelesen.
Das Kapital "Sentimental Histories" vereint "Gefährtinnen" - Ehefrauen und Töchter berühmter Männer - sowie Schriftstellerinnen früherer Epochen und des späten 19. Jahrhunderts. Die diesen Porträts implizite Intimität wurde für die von Helden aller Art konstituierte Größe der Nation durchaus gebraucht. Dass Elizabeth Claypole's allegorisches Portrait von 1658 in die Galerie gelangte, war nicht so sehr ihr selbst als vielmehr ihrem Vater Oliver Cromwell (1599-1658) zu verdanken. Als Athena, Tochter des Zeus und Göttin des Sieges, aber auch der Weisheit und der häuslichen Kunstfertigkeiten, verweist sie auf ihren Vater. Der Feldherr und Staatsmann zeigte sich, einer Legende nach, empfänglich für den besänftigenden Einfluss der Tochter. So wurden in ihrem Porträt emotionale Qualitäten des Vaters aufgerufen, die in offiziellen Bildnissen Cromwells obsolet waren. Die Priorität des kultivierenden Einflusses rechtfertigte, wie Lara Perry zeigt, auch die Egalisierung recht unterschiedlicher Schriftstellerinnen. Die Rezeption sowohl jener, die vornehmlich auf dem Feld der Religion und Pädagogik wirkten, als auch der literarischen Avantgarde des 19. Jahrhunderts bestätigte, was neuere, einflussreiche Lexika stets an erster Stelle zum Ruhm von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen vorbrachten: die häuslich-familiäre Kompetenz. So sicherte das Attribut des Schreibtischs, das im Setting männlicher Porträts die öffentliche Bedeutung des Modells verbürgte, keineswegs Gleichheit; denn Haltung und häusliche Kleidung, besonders die Haube, lokalisierten die schriftstellerische Arbeit im Haus und schrieben ihren Wert dem Privatleben zu.
Diesem Rollenbild entsprachen mediale Verfahren der Marginalisierung. Im Sammlungsbereich bedeutender Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts sind überproportional viele Aquarelle, Pastelle, Zeichnungen und Miniaturen zu finden. Auch so berühmte Autorinnen wie George Eliot, Elizabeth Barrett Browning und Christina Rossetti bilden keine Ausnahme. In einer Zeit, in der die Unterdrückung der "Frauenfrage" auf der politischen Agenda stand, war es mithin nicht selbstverständlich, künstlerisch und wissenschaftlich höchst angesehene Frauen in Ölgemälden darzustellen. Perry verweist auf die genderbedingte Differenz zwischen den ranghohen dunklen Ölbildern und den hellgrundigen Pastellen oder Aquarellen mit ihrer Konnotation des Weiblichen und Dilettantischen und zieht Fotos der Präsentation heran, die diese ästhetische Gewichtung eindrucksvoll belegen. Zwischen zahlreichen männlichen Büsten und Ölbildern erscheinen einige wenige "Lichtgestalten", die weniger den Glanz einer Schriftstellerin als den einer Muse verbreiten.
Erwartungsgemäß spielte "Schönheit" in der Sammelpolitik eine zentrale Rolle. Diese Kategorie ließ sich nach Belieben wenden. Sie galt als Signifikant sowohl moralischer Integrität wie auch ihres Mangels. So wurde zum Beispiel im Fall einer "Schönheitsgalerie" englischer Hofdamen des 17. Jahrhunderts das nationale Interesse an ihrer visuellen Präsenz vehement angezweifelt. Oft auch geriet die Forderung nach getreuer Abbildung moralisch anerkannter Modelle in Konflikt mit dem Anspruch ästhetischer Qualität. Es ließ sich im Zug der Kunstentwicklung im späten 19. Jahrhundert immer weniger leugnen, dass das künstlerisch avancierte Porträt durchaus nicht immer schöne, in sittlicher Hinsicht vorbildliche Frauen darstellte, und so wurde das Kriterium "Schönheit" zunehmend von der weiblichen Erscheinung auf das professionelle Können des jeweiligen Malers verlagert. Ein um 1786 entstandenes Attitüdenbildnis Lady Hamiltons enthülle - so ein Kunstkritiker des 19. Jahrhundert - George Romneys ungemeine Stärke als Maler; ein anderer behauptete, dass William Hamilton mit dieser Frau seine Sammlung antiker Statuen geheiratet habe. Lady Hamiltons Porträt vermittelte somit den männlichen Beitrag zum kulturellen und künstlerischen Rang der Nation um den Preis, dass ihre Kunst der Attitüde unsichtbar blieb.
Kommt es Lara Perry zunächst darauf an zu zeigen, wie das Subjekt und die Dynamik des biografisch Singulären im statischen Rollenbild des Viktorianismus unterging, so untersucht sie im letzten Teil ihrer profunden Studie die künstlerischen und kulturellen Aktivitäten von Frauen in der Galerie. Obwohl weibliche Profession gegen das patriarchale Normensystem verstieß, wurden Porträts von weiblicher Hand vor allem dann erworben, wenn sie die familiäre Bindung, etwa im Konterfei des Ehemanns, unter Beweis stellten. Unbehelligt von solchen Zumutungen blieben aber die Selbstbildnisse von Angelika Kauffmann (um 1770-75) und Ann Mary Newton (1863), und dies wohl in erster Linie deshalb, weil die Malerinnen bei Hof und in der königlichen Akademie reüssiert hatten. Perry ihrerseits betont, dass die in die Schönheit der Selbstbildnisse eingetragene meisterhafte Malpraxis gegen die Lesart des Dilettantismus und der weiblichen Empfindsamkeit wirkungsvoll opponierte.
Museumsbezogene Besucherforschung wird - im Unterschied zu statistischen Erhebungen - bis heute weitgehend vernachlässigt und so ist Lara Perrys Kärrnerarbeit einer historischen Analyse umso verdienstvoller. Sie durchforstete die Unterlagen des Trusts, pädagogische Schriften, Romane und Presse, um die vielfältige Partizipation von Frauen im Unterschied zum männlichen Normbesucher zu erhellen. Karikaturen des Museums als Laufsteg aktueller Moden waren beliebt; aber die Arbeit der Malerinnen und Kopistinnen in der Galerie und die Museumsbesuche von Frauen der Mittelschicht, die die Aneignung professionellen Könnens und kultureller Bildung belegen, blieben im Dunklen. An zahlreichen Beispielen zeigt Perry, wie die vielfältige Praxis der Frauen das Anliegen des Museums, die Herstellung und Verbreitung kultivierter Weiblichkeit, durchkreuzte. Die Suffragetten schließlich nutzten die Porträtsammlung als Plattform für ihren Protest gegen den Ausschluss aus nationalen Belangen und versuchten so die Definitionsmacht des Museums außer Kraft zu setzen.
Faszinierend ist die Stringenz, mit der Lara Perry ein Museum und eine Sammlung von hohem kulturpolitischem Ansehen dekonstruiert. Ihre exemplarische Untersuchung zu lesen, ist umso mehr zu empfehlen, als das Fach Kunstgeschichte Institutionenkritik weitgehend aus dem Kanon gestrichen hat und so das Museum der Massen und des Events fördert.
Ellen Spickernagel