Jan Lipinsky: Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von 1939 bis 1999 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 991), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004, 657 S., ISBN 978-3-631-52322-3, EUR 97,50
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Jan Lipinsky hat eine ungewöhnliche Arbeit vorgelegt. Er behandelt die Entstehungsgeschichte, die Auswirkungen und den mehr als ein halbes Jahrhundert umspannenden, zuweilen geradezu an einen Kriminalroman erinnernden ideologischen Kampf um den Existenzbeweis eines einzigen Dokumentes - des Geheimen Zusatzprotokolls zum Nichtangriffsvertrag zwischen Deutschland und der Sowjetunion vom 23. August 1939.
Die Quellenbasis seiner Untersuchung ist nicht leicht zu überschauen. Sie umfasst nicht nur Archivbestände verschiedener Länder, vor allem Deutschlands und Russlands, sowie publizierte Dokumente, sondern darüber hinaus auch eine Vielzahl von Veröffentlichungen, darunter auch aus der Tagespresse, in vielen Sprachen. Dabei tritt die Historiografie in einer Doppelrolle auf, nämlich sowohl als Informationsquelle über die historischen Ereignisse als auch als Indikator für Entwicklungen innerhalb der historischen Forschung.
Lipinsky beschränkt sich aber nicht auf die Historiografie, sondern bietet eine detaillierte Untersuchung des Geheimen Zusatzprotokolls und seiner politischen Bedeutung, der historischen Verantwortung der wichtigsten Akteure für seine Entstehung und Umsetzung sowie der ein halbes Jahrhundert währenden Bemühungen der Verheimlichung der Existenz dieses Dokuments und auch der damit eng verbundenen Bestrebungen von Geschichtsklitterern, die noch nach seiner offiziellen Anerkennung versuchten, seine Bedeutung herunterzuspielen.
Lipinsky hegt keinerlei Zweifel daran, dass die Initiative zu einer Übereinkunft zwischen Deutschland und der UdSSR vom Kreml und nicht von der Reichskanzlei ausging, wie das über Jahrzehnte hinweg von der sowjetischen Geschichtsschreibung behauptet worden ist und weiterhin von einem Teil der russischen Historiker und einigen westlichen Historikern behauptet wird, die sich unkritisch auf in den letzten Jahren veröffentlichte offizielle sowjetische Dokumente stützen (41). Natürlich ist es nicht einfach, den Ausgangspunkt der Annäherung zwischen den beiden Diktatoren zu bestimmen, der zum Vertrag vom 23. August 1939 geführt hat. Jedoch war, wie jüngste Forschungen gezeigt haben, das Streben Stalins nach einer Übereinkunft mit Hitler bereits seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten ein äußerst wichtiges Element der Außenpolitik des sowjetischen Führers.
Von prinzipieller Bedeutung ist auch die eingehend behandelte Frage des jeweiligen Anteils beider Seiten an der Ausarbeitung der Texte des Nichtangriffspakts und des Zusatzprotokolls. Gegen Behauptungen von Apologeten der stalinistischen Außenpolitik gewendet, stellt Lipinsky fest: "Tatsächlich bestimmten jedoch inhaltliche sowjetische Wünsche den Protokolltext." (72) Jedoch ist Lipinskys Schluss, das Protokoll gehe inhaltlich auf sowjetische und dem Wortlaut nach auf deutsche Initiative zurück (507), nicht exakt. Stalins Anteil an der Ausarbeitung des Textes der Übereinkunft war von entscheidender Bedeutung, insbesondere was das Geheime Zusatzprotokoll betraf, das für den Kreml ein Schlüsseldokument darstellte, ohne das es keinerlei Übereinkunft mit Deutschland gegeben hätte. [1]
Fesselnd stellt der Autor dar, in welchem Maße Informationen über den Inhalt des Protokolls sowohl in der Sowjetunion und in Deutschland als auch in den Hauptstädten der anderen Akteure in der internationalen Arena durchsickerten. Da das Protokoll die Grundlagen der Zusammenarbeit der UdSSR und Deutschlands für nahezu zwei Jahre bestimmte, konnte die Information über seine Inhalte nicht auf einen ganz engen Zirkel begrenzt bleiben.
Einen neuen Impuls erhielt der Kampf um seine Geheimhaltung im Rahmen des Nürnberger Prozesses. Lipinsky beleuchtet alle Etappen der Zusammenarbeit der Siegermächte in dieser Frage, die zur Verletzung prozessualer Normen etwa bei der Verweigerung der Berufung bestimmter Zeugen führte, die über den Inhalt des Protokolls informiert waren. Schrittweise, wenn auch nicht vollständig, wandten sich die Verbündeten der UdSSR allerdings von den zuvor getroffenen Vereinbarungen ab, im Prozess eine Reihe von "delikaten Fragen" nicht zu berühren. Auch wenn im Nürnberger Prozess entgegen Lipinskys Meinung Existenz und Inhalt des Protokolls nicht bewiesen wurde (367, 507), weil das Tribunal ein Dokument, das die Beteiligung einer der Siegermächte an einer Verschwörung gegen den Frieden belegte, nicht als Beweis anerkennen konnte, so ging doch vom Nürnberger Prozess ein wichtiger Impuls in Richtung Aufdeckung aus.
Die UdSSR versuchte dem unter anderem dadurch entgegenzuwirken, dass sie, wie Lipinsky zeigen kann, ihre Geheimpolizei in der SBZ auf ehemalige Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Moskau ansetzte, die nun unliebsame Zeugen waren (370) - allerdings ohne Erfolg. Die im Zuge des beginnenden Kalten Krieges 1948 publizierte amerikanische Dokumentation "Nazi-Soviet Relations 1939-1941" ließ bei all ihrer Einseitigkeit doch keinen Zweifel an der Existenz geheimer deutsch-sowjetischer Abmachungen über die territoriale Aufteilung Europas in Interessensphären und bildete damit den Ausgangspunkt eines "Dokumentenkriegs" und einer internationalen ideologischen Konfrontation, die die Entwicklung der sowjetischen Geschichtsschreibung über die zwischenstaatlichen Beziehungen 1939-1941 entscheidend bestimmte.
Diesem langjährigen Prozess und auch der Entstehung eines historiografischen Pluralismus in den Jahren der Perestrojka und eines entsprechenden innersowjetischen Meinungsstreits widmet Lipinsky viele Seiten. Diese Passagen sind nicht nur inhaltlich interessant, sondern auch als der Versuch eines deutschen Forschers mit dem sowjetisch-russischen "Historikerstreit" zurechtzukommen. Das ist kein einfaches Vorhaben und dem deutschen Historiker nicht in allen Punkten gleichermaßen gelungen. So kann die Nichterwähnung der Existenz des Paktes in der Zeit vor der Perestrojka keineswegs nur mit "bewußter Täuschung, Vertuschung, ja Geschichtsfälschung" gleichgesetzt werden, um so weniger, als Lipinsky ja selbst von einem "offiziell vorgeschriebenen und von der Zensur überwachten Stillschweigen" (430) spricht. Hier muss klar unterschieden werden zwischen jenen Historikern, die wegen der Zensur nicht auf der Basis der im Westen veröffentlichten Quellen über den deutsch-sowjetischen Pakt schrieben und nicht darüber hätten schreiben können, ohne zu riskieren den Arbeitsplatz zu verlieren, auf schwarzen Listen ideologisch unerwünschter Personen aufzutauchen usw., und jenen, die über den Nichtangriffspakt schrieben, ihn als herausragende Errungenschaft der sowjetischen Diplomatie priesen und die tatsächlichen Hintergründe dabei bewusst mit Schweigen übergingen und damit bewusst ein verzerrtes Bild der Außenpolitik der UdSSR erzeugten.
Zu den unbestreitbaren Stärken von Lipinskys Arbeit gehört die Nachzeichnung der verschiedenen Etappen der jahrzehntelangen Manipulationen hinsichtlich des Geheimen Zusatzprotokolls, von völligem Beschweigen dieses Dokuments über die offenkundige Falschbehauptung, die Sowjetregierung habe die deutsche Idee eines geheimen Protokolls zurückgewiesen [2], bis zur nicht weniger falschen Behauptung des Chefs der Internationalen Abteilung des ZK, Valentin Falin, noch im Jahr 1988, die zur Prüfung der Existenz des Protokolls nötigen Dokumente seien vernichtet worden, ohne Spuren hinterlassen zu haben. [3] Lipinsky schildert ausführlich die Bemühungen, des in manchen liberalen Kreisen der Bundesrepublik sehr geschätzten Falin, "Existenz und Inhalt des Geheimprotokolls so lange wie möglich in der Schwebe zu halten" (439).
Der innersowjetische Streit um das Protokoll habe bis zu seiner Anerkennung zwar viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, aber "für westliche Kenner kaum neue Tatsachen zu Tage" gefördert, meint Lipinsky (442). Formell stimmt das, neue Fakten haben die Diskussionen und Publikationen in der UdSSR bis Ende 1989 nicht ans Tageslicht gebracht. Aber in dieser Zeit wurden nicht wenige neue Fragen zur Vorgeschichte und Geschichte des sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakts gestellt, was zuweilen nicht weniger wichtig ist. Lipinsky thematisiert die ausweichende Position der bundesdeutschen Regierungen, die es aus Gründen "diplomatischer Zweckmäßigkeit" vermieden, die deutsch-sowjetischen Abmachungen von 1939 zu verurteilen, übergeht aber die passive Haltung, die die bundesdeutschen Historiker einnahmen, die die schwierigen Auseinandersetzungen, die in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre in der UdSSR von einer kleinen Anzahl ihrer fortschrittlich gesonnenen Kollegen geführt wurden, in der Mehrzahl teilnahmslos beobachtete. Dabei hätte seinerzeit die Publikation eines einzigen Dokumentes aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, nämlich der von Ribbentrop verfügten besonderen Verpflichtung der Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Moskau zur Geheimhaltung eines gewissen Protokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt [4], die Debatte erheblich beeinflussen können.
Diese kritischen Bemerkungen unterstreichen nur die Schwierigkeit der Aufgabe, die sich der Autor gestellt hat, und dieser Aufgabe ist Lipinksy mit seiner grundlegenden Arbeit über die 60-jährige Geschichte eines einzigen Dokuments, das eine bedeutende Rolle für die Geschicke der Völker vieler Länder Europas gespielt hat, zweifellos gerecht geworden.
Aus dem Russischen übertragen von Jürgen Zarusky
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu Lev Bezymenskij: Sekretnyj pakt s Gitlerom pisal lično Stalin, in: Novoe vremja, 1998, Nr. 1, 30-33.
[2] Istorija Velikoj Otečestvennoj vojny Sovetskogo Sojuza 1941-1945, Moskau 1963, Bd. 1, 174; Istorija vtoroj mirovoj vojny 1939-1945, Moskau 1974, Bd. 2, 280.
[3] Velikaja Otečestvennaja ..., in: Voenno-istoričeskij žurnal 1988, Nr. 9, 11.
[4] PA AA, Botschaft Moskau - geheime Sicherheitsfragen, Bd. 1. Bl 254850.
Sergej Z. Sluč