Ute Frevert / Heinz-Gerhard Haupt (Hgg.): Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Essen: Magnus Verlag 2004, 373 S., ISBN 978-3-88400-407-4, EUR 9,95
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Der hier zu besprechende Sammelband entstand Mitte der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, wurde 1999 erstmals im Campus Verlag publiziert und erschien 2004 in einer Lizenzausgabe im Magnus Verlag unter dem allgemeinen Titel "Der Mensch des 19. Jahrhunderts" in einer Serie ähnlicher Publikationen. Die Verlage halten die Herausgeber und Autoren oft an, ihre Arbeiten mit allgemeinen Titeln zu versehen. Dahinter steht die Hoffnung, eine größere Aufmerksamkeit zu erzielen. Das ist ein legitimes Anliegen.
Nicht selten folgt jedoch der Inhalt nur bedingt dem künstlich erhöhten Anspruch. So ist es auch in diesem Fall. Von einer Abhandlung zu dem Menschen eines ganzen Jahrhunderts darf man schon Einiges an Abstraktion und weitgespannten Ausführungen erwarten. Die Enttäuschung ist groß, wenn rasch Grenze auf Grenze erkannt wird. Das Bild des Menschen in den vorliegenden Aufsätzen reduziert sich zu einem hauptsächlich von seiner Professionalität bestimmten Subjekt, wie es die traditionelle Sozialgeschichtsschreibung noch ganz klassisch vor den Weiterungen des "cultural turns" in den Neunzigerjahren zeichnete.
Der Mensch in dem Sammelband reduziert sich weiterhin - großzügig gesehen - auf den Europäer. Das Buch stemmt sich also ebenfalls gegen die Weiterungen der world oder global history, die zur Zeit der Entstehung des Manuskripts bereits im Aufschwung begriffen war.
Aber selbst der europäische Mensch findet sich nur in Bruchstücken beschrieben. Er kommt als Arbeiter, Unternehmer, Ingenieur, Arzt, Dienstmädchen, Lehrerin, Künstler oder Bauer vor, aber nicht als Angestellter oder Handwerker. Wir finden ihn als Adeligen, aber nicht als verarmte Unterschicht, als Großstadtmenschen, aber nicht als Bewohner der Kleinstädte und Dörfer. Er wird meistens als Deutscher dargestellt, des Öfteren noch als Engländer und Franzose, vereinzelt als Italiener, aber nicht als Skandinavier, Balte, Russe, Pole, Spanier, Grieche, Ire oder Mitglied eines der Völker auf dem Balkan.
Auch seine Religiosität spiegelt sich merkwürdigerweise in einem vorreformatorischen Bild. Lediglich ein Aufsatz widmet sich überhaupt einer konfessionellen Aufgabenstellung und beschränkt sich dabei auf die Katholiken, während Lutheraner, Calvinisten, Reformierte, Juden und Muslime außen vor bleiben. Das ist dann doch ein etwas fragmentarischer Mensch, der hier für das 19. Jahrhundert vorgestellt wird.
Lässt man den überzogenen Anspruch des Bandes beiseite, finden sich eine Reihe bemerkenswerter, oft mit komparatistischen Ansätzen verfasster Aufsätze. Vincent Roberts Beitrag zu den Arbeitern in Frankreich und England ist mit Gewinn zu lesen. Youssef Cassis Aufsatz zu Unternehmern und Managern konzentriert sich auf Unternehmerdynastien in England und Deutschland, skizziert Aufstiegsmuster und verweist auf die Bedeutung des Netzwerks von Aufsichtsratsmandaten.
Sylvie Schweitzer widmet sich dem Ingenieur und verweist dabei auf den Modellcharakter des Ingenieurberufs in England. Oliver Faure bezieht bei seiner Skizze über den Arzt neben Frankreich, Großbritannien und Deutschland als Einziger auch die USA mit ein. Michela de Giorgio verspricht einen Beitrag zu den Gläubigen, liefert jedoch nur Informationen zu den Katholiken in Frankreich und Italien.
Gunilla-Friederike Budde setzt zum großen Wurf über das weibliche Gesinde als europäisches Phänomen an, belässt es dann jedoch bei literarischen Widerspiegelungen, als hätte die Realität nicht genügend direkte Quellen hervorgebracht. Claudia Huerkamp schreibt über den Beruf der Lehrerin, umkreist das Phänomen des "Lehrerinnen-Zölibats" und deckt die Gründe dafür auf.
Gérard Noiriel gelangt zu der nicht ganz neuen Erkenntnis, dass unter Staatsbürger, citoyen und citizen jeweils Verschiedenes verstanden wurde. Frank Caesteckers Beitrag zum Migranten referiert die Ergebnisse der Migrationsforschung zur externen und internen Migration, Friedrich Lenger widmet sich kursorisch den Ergebnissen der Urbanisierungsforschung und Ute Frevert versucht die wesentlichen Eigenschaften des Künstlers zu fassen und schenkt sich dabei den Blick über Deutschland hinaus, obwohl sie den Künstler als hoch mobil identifiziert.
Giovanni Montroni setzt sich mit dem italienischen Adel auseinander, ohne einen Seitenblick auf die europaweiten Verbindungen dieser Sozialgruppe zu werfen. Den Schlussakkord setzen schließlich Heinz-Gerhard Haupt und Jean-Luc Mayaud zum deutschen und französischen Bauern. Ärgerlich sind schließlich noch die fehlenden Zitat- und Literaturnachweise.
Das Buch hält somit nicht, was sein Titel verspricht, und das ist schade, denn die einzelnen Beiträge sind in ihrer jeweiligen Besonderheit nützlich, kenntnisreich und meistenteils auf hohem Niveau verfasst. Wenn auch die Zeit mittlerweile vieles relativiert hat, hätten sie doch einen angemesseneren, ihnen gerecht werdenden Einband verdient gehabt.
Ralf Roth