Anscar Jansen: Der Weg in den Ersten Weltkrieg. Das deutsche Militär in der Julikrise 1914, Marburg: Tectum 2005, 568 S., ISBN 978-3-8288-8898-2, EUR 29,90
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Das Ziel der hier zu besprechenden Dissertation von Anscar Jansen ist es, so kann der Leser der Rückseite des Buches entnehmen, eine Lücke zu schließen: Eine wissenschaftliche Untersuchung der Rolle der deutschen Militärs in der Julikrise fehle bislang. Das freilich ist, in dieser Zuspitzung, nur teilweise richtig. Es gibt seit den 1920er-Jahren eine Fülle von Untersuchungen zu diesem Thema. Allerdings beschäftigten sich diese weitgehend mit dem Spitzenpersonal in den Entscheidungszentren, mit dem Generalstab und den Kriegsministerien. Das machte im Zusammenhang mit der Kriegsschuldfrage und der Frage für Verantwortung für Krieg und Frieden auch Sinn, da hier, und nicht in den unteren Ebenen der deutschen Armeen, die Entscheidungen gefällt wurden. Jansen weitet den Blick nun aus und bezieht in seine Untersuchung auch die unteren Ebenen mit ein, soweit das, infolge der Verluste des preußischen Heeresarchivs, möglich ist. Er wertet dazu die bayerischen, sächsischen und württembergischen Bestände aus.
Jansen hat eine eher positivistische Herangehensweise gewählt. An einer Stelle zitiert er Michael Salewski, dass Theorien manchmal mehr schadeten als nützten. Das ist in vielen Fällen richtig, und manche Arbeit ist mehr thesis driven, als gut für sie ist. Andererseits schadet es aber nicht, einen großen Gesichtspunkt zu haben, eine allgemein relevante Fragestellung, die es ermöglicht, die eigene Forschung so anzulegen, dass sie sich in ein größeres Gesamtbild einordnet und dieses damit, im günstigsten Fall, sogar verändert. Jansen schneidet relevante Fragen an, so zum Beispiel, ob sich Anzeichen für langfristige Kriegsvorbereitungen im militärischen Alltag der letzten Friedenstage erkennen lassen. Das wäre in den Tagen, in denen der Stellenwert des "Kriegsrats" heiß diskutiert wurde, ein kontroverses Thema gewesen. Die Debatte hat zwar an Schwung verloren, bleibt aber wichtig.
Jansen beginnt seine Arbeit mit einigen einleitenden Kapiteln zum Forschungsstand, zum deutschen Militär vor 1914 und zur Mobilmachungsplanung. Diese immerhin schon fast 200 Seiten enthalten eine kundige und lesbar geschriebene Zusammenfassung des Forschungsstandes. Dann erst kommt Jansen zu seinem eigentlichen Thema, dem deutschen Militär in der Julikrise 1914, dem er die restlichen 350 Seiten seiner Dissertation widmet. Er behandelt die Vorgänge Tag für Tag, wobei er bei den Spitzen in Berlin anfängt und dann die Ereignisse in die Truppenverbände hinunterverfolgt. Zu den Ereignissen in Berlin kann er nichts wesentlich Neues beitragen, obwohl die Akribie, mit der er die bekannten Quellen noch einmal auswertet, hohe Anerkennung verdient. Die relevante Sekundärliteratur wird dagegen nicht vollständig herangezogen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Jansen scheint Annika Mombauers 2001 erschienene Arbeit über Helmuth von Moltke nicht zu kennen. Bibliografische Vollständigkeit ist zwar ein Mythos und ein allzu simples Totschlagargument von Rezensenten. In einem Buch über das deutsche Militär in der Julikrise die jüngste Arbeit über den Generalstabschef, den letztlich hauptverantwortlichen deutschen Militär, nicht zu berücksichtigen, darf aber schon als eine größere Panne bezeichnet werden, zumal sich Jansen an vielen Stellen mit Moltke beschäftigt. Die Auseinandersetzung mit Mombauers Buch wäre für Jansen auch deshalb lohnend gewesen, da sich dort alternative, von seinen eigenen abweichende Deutungen und Interpretationen finden.
Doch das Herzstück dieser Dissertation sind ohnehin nicht die führenden Militärs, sondern die Vorgänge an der Basis. Jansens Blick in die unteren Etagen des Militärs beleuchtet den militärischen Routinebetrieb in den letzten Friedenstagen; er zeigt den weiterlaufenden Alltag, aber auch die zunehmende Überraschung und Konfusion. Je nach der Persönlichkeit des betreffenden Kommandeurs wurde rasch gehandelt, immer wieder telefoniert und telegrafiert oder gar nichts unternommen. Die Lektüre dieser, auf der Auswertung amtlicher Schriftwechsel basierenden Passagen ist in der positivistischen Häufung ihrer Aktenparaphrasen trocken und sehr mühsam. Immerhin aber betritt die Arbeit hier Neuland. Jansen hat sich einer regelrechten Kärrnerarbeit unterzogen und große Aktenmengen in den bayerischen, württembergischen und sächsischen Militärarchiven sowie die Marineakten im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg i. Br. ausgewertet und außerdem noch ausgewählte Nachlässe durchgesehen. Der hauptsächlich ausgewertete militärbürokratische Schriftwechsel der letzten Friedenstage enthält leider nur wenig Meinungsäußerungen, Einschätzungen und subjektive Erwartungen aus den unteren und mittleren Führungsebenen. Das ist, bei der Natur des militärischen Aktenmaterials, nicht anders zu erwarten. Dieses Limit seiner Quellen scheint Jansen allerdings nicht erkannt zu haben, oder es war ihm egal, jedenfalls kippt er sie, chronologisch geordnet, in schwer verdaubaren Mengen über dem Leser aus. Dabei hätten sich diesen Quellen unter Hinzuziehung anderer Quellenarten und Fragestellungen sowie durch schärfere Selektion durchaus interessante Aspekte abgewinnen lassen. Umso schwerer wiegt ihre nicht sehr fantasievolle Präsentation. Dies lässt bezweifeln, ob Jansens Arbeit in der Wissenschaft die Aufmerksamkeit erhalten wird, die dem beträchtlichen und anerkennenswerten archivalischen Arbeitsaufwand entsprechen würde.
Jansen kommt in seiner Dissertation zu dem Ergebnis, dass das deutsche Militär in der Julikrise keinesfalls auf einen unmittelbaren Krieg vorbereitet gewesen, sondern von diesem ebenso überrascht worden sei wie alle anderen auch. Er sieht dies als weiteres Argument dafür, dass die deutsche Reichsleitung Anfang Juli 1914 einen großen Krieg nicht für wahrscheinlich gehalten habe. Diese Erkenntnis ist zwar keine wirkliche Überraschung, aber trotzdem ein wichtiger Befund, der es der schrumpfenden Gruppe von Verschwörungstheoretikern noch schwerer machen wird, von einem von langer Hand vorbereiteten deutschen Angriff zu sprechen.
Holger Afflerbach