Hagen Schulz-Forberg: London - Berlin. Authenticity, Modernity, and the Metropolis in Urban Travel Writing from 1851 to 1939 (= Multiple Europes; 36), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2006, 407 S., ISBN 978-90-5201-039-7, EUR 40,60
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Reisebeschreibungen sind eine Quellengattung, die seit längerer Zeit sowohl von der Geschichts- als auch von der Literaturwissenschaft für ihre Forschungsinteressen herangezogen wird. Heute bewegen sich beide Disziplinen jenseits des lange beliebten Kampffeldes Fakt versus Fiktion, und es scheint selbstverständlich, in Reisebeschreibungen vor allem Interpretationen von Wirklichkeit, also spezifische Repräsentationen, und keine wahrheitsgetreuen Abschilderungen zu erblicken. Wo entsprechend große Textcorpora betrachtet werden, lassen sich dann gleichermaßen weit verbreitete Genre-Charakteristika erkennen wie der kollektive Charakter der dargestellten Imaginationen erfahren.
Genau an dieser wissenschaftshistorischen Wegmarke ist auch die historische Arbeit von Hagen Schulz-Forberg positioniert. Der Titel verspricht einen Vergleich des "Urban Travel Writing" über London und Berlin für den Zeitraum von 1851 bis 1939 und nennt "Authenticity, Modernity, and the Metropolis" als Orientierungspunkte. Ihrer Explikation und Verknüpfung gehört das erste Drittel der Studie. Im zweiten Teil werden dann in zwei großen Abschnitten die Beschreibungen Londons und Berlins behandelt und dazu zahlreiche französische, englische und deutsche Reisebeschreibungen herangezogen.
Seine Auffassung von Reiseliteratur als spezifischer Form des Erzählens gewinnt Schulz-Forberg unter Verweis auf die Reflexionen der Vertreter der "new history" (39) über ein adäquates Verständnis von Geschichtsschreibung. Certeau, Ricoeur, Rancière und Chartier nennt er als seine Gewährsleute und auch Greenblatt und Geertz reiht er hier ein, um so die Probleme von Geschichtsschreibung und Reisebeschreibung zu parallelisieren, ohne sich allerdings im Detail auf die damit verknüpften Theoriedebatten einzulassen. So gelten ihm die herangezogenen Quellentexte als fiktionale Texte, die ihre Fiktionalität zu verbergen trachten - eine Position, die der Autor nicht immer konsequent durchhält, da er den Beobachtungen seiner Autorinnen und Autoren durchaus auch Glauben schenkt. Mit seinen Reiseberichterstattern bestimmt er dann die Großstadt als paradigmatischen Ort von Modernität - ein Terminus, den er mit Fredric Jameson weniger als Perioden-, denn als narrativen Begriff zu bestimmen sucht. Innerhalb der Reiseliteratur macht er schließlich ein eigenes Subgenre des "Urban Travel Writing" aus, das von ihm seinerseits als abgrenzbares Narrativ begriffen wird.
Dieses Narrativ zielt, folgt man Schulz-Forberg, auf die Erzeugung von Authentizität. Gemeint ist damit nur in zweiter Instanz die von Reiseliteratur stets angestrebte und mit einem tradierten Arsenal an rhetorischen Mitteln erreichte Glaubwürdigkeit der Schilderungen beim Lesepublikum. Schulz-Forbergs Authentizitätsbegriff bezieht sich vielmehr auf die Suchbewegung der Reisenden nach dem, was die jeweils besuchte Nation ausmacht, also hier dem typisch Englischen bzw. typisch Deutschen, innerhalb des urbanen Raums. In bestimmten Sehenswürdigkeiten, in Verhaltensweisen, in scheinbar beliebigen Elementen der Dingwelt vermögen die Reisenden Bedeutungsträger für das authentisch Nationale des besuchten Reiselandes und den "Nationalcharakter" seiner Bewohner zu erkennen; sie erzeugen und tradieren durch ihre Darstellungen diesen Bedeutungsgehalt allerdings überhaupt erst. Schulz-Forberg führt für diese Elemente den von Krzysztof Pomain entliehenen Terminus der Semiophore ein. Die Großstadt wird damit zum doppelten Ort der Evidenz: für Modernität wie für (national) Authentisches.
Vieles, was Schulz-Forberg im ersten Teil seiner Studie nur thesenhaft formuliert oder zwar behauptet, aber nicht an seinen Texten zeigt, gewinnt seine Tragfähigkeit bei der Lektüre des zweiten Teils. Das Bestreben des Autors dort ist es, die Semiophoren in den herangezogenen Reisebeschreibungen zu Berlin und London möglichst umfassend zu erschließen. Über weite Strecken ist die Arbeit daher deskriptiv und kann sich für ihre Bestandaufnahme aus der reichen Fülle der herangezogenen Quellen bedienen. Mal folgt der Autor dabei dem chronologischen Aufbau seiner Texte, mal bietet er Kapitel zu einzelnen Gegenständen, mal zu bestimmten Zeiträumen innerhalb seines Untersuchungszeitraums.
Die Themenvielfalt ist dabei enorm: konkrete Sehenswürdigkeiten wie die Berliner Gasometer oder die Londoner Docks gehören dazu; aber auch das Sichtbarwerden der Debatten über Freiheit oder die Amoralität von Homosexualität fallen darunter; schließlich werden noch bestimmte Erzählmuster verhandelt wie die Betonung von Gegensätzen oder Beschreibungen auf der Grundlage von Intervisualität und Intersensualität. Aufgebrochen wird dieses Inventar dann dort, wo sich innerhalb des Untersuchungszeitraums Veränderungen in der Bedeutungszuschreibung feststellen lassen. Dies geschieht vor allem auf der Ebene temporaler Bestimmungen: London beispielsweise verliert seinen Status als Stadt der Zukunft an New York; Berlin hingegen gewinnt erst allmählich den Rang einer Großstadt und eines eigens lohnenden Reiseziels, das nach und nach die einzelnen Elemente des Großstadtnarrativs übertragen bekommt.
Es gehört zu den Stärken der Arbeit, dessen Vielfalt und Heterogenität dennoch als Einheit erfahrbar werden zu lassen, auch wenn dies im Londonkapitel besser gelingt, als im etwas zerfallenden Berlinteil. Dabei geht Schulz-Forberg bei aller Orientierung am Verbindenden differenziert genug vor, nationale Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen etwa in der Wahrnehmung der englischen Freiheit nicht zu verwischen. Besonders zu begrüßen ist, dass er in der Anlage seiner Arbeit Quellentexte aus drei verschiedenen Sprachen berücksichtigt. Diese internationale Ausrichtung ist gewiss auch dem Entstehungsort dieser Dissertation, dem European University Institute in Florenz, geschuldet. Die Haupterkenntnis der Studie ist daher sicher der zeitlich, räumlich und kulturell übergreifende Charakter der identifizierten Genre-Eigentümlichkeiten.
Schulz-Forberg erfüllt mit der Multilateralität seiner Arbeit eine Forderung, die schon lange von einem Forschungszweig erhoben wird, der sich auch in einer seiner zentralen Fragestellungen, nämlich der nach nationalen Stereotypen, mit Schulz-Forbergs Erkenntnisinteresse deckt, von ihm aber vollständig unberücksichtigt bleibt. Die Rede ist von der komparatistischen Imagologie. Angesichts der dort angestellten Überlegungen etwa über den Erkenntnisgehalt von Stereotypensammlungen hätte die Arbeit sicher ihr analytisches Profil noch schärfen können. [1] Gewünscht hätte sich der Rezensent auch eine stärkere Berücksichtigung einschlägiger Forschungsliteratur, die sich beispielsweise mit älteren Berlindarstellungen befasst, die sicher zu mancher Relativierung des von Schulz-Forberg als neu Deklariertem beigetragen hätte. [2] Weniger ins Gewicht fällt hingegen die Tatsache, dass der Autor seinem Anspruch, die Reiseliteratur zu beiden Reisezielen für den genannten Zeitraum möglichst umfassend erschlossen haben zu wollen, zumindest bei den deutschen Beiträgen kaum gerecht wurde: Es fehlen so zentrale Texte wie der von Fanny Lewald oder der des für die Großstadtthematik besonders einschlägigen Heinrich Beta. [3] An den textübergreifenden Befunden, denen Schulz-Forbergs zentrales Interesse galt, hätte deren Berücksichtigung indes wohl nur wenig geändert. Um jedoch den oft neugierig machenden und gut ausgewählten Zitaten autorenspezifisch nachspüren zu können, wäre ein Personenregister sehr wünschenswert gewesen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa Manfred S. Fischer: Nationale Images als Gegenstand Vergleichender Literaturgeschichte. Untersuchungen zur Entstehung der komparatistischen Imagologie, Bonn 1981.
[2] Vgl. etwa Thorsten Sadowsky: Reisen durch den Mikrokosmos. Berlin und Wien in der bürgerlichen Reiseliteratur um 1800, Hamburg 1998.
[3] Vgl. Fanny Lewald: England und Schottland. Reisetagebuch, 2 Bde., Braunschweig 1851/52; Heinrich Beta: Aus dem Herzen der Welt, 2 Bde., Leipzig 1866.
Tilman Fischer