Philipp Gassert: Kurt Georg Kiesinger 1904-1988. Kanzler zwischen den Zeiten, München: DVA 2006, 895 S., ISBN 978-3-421-05824-9, EUR 39,90
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Schwer zu sagen, ob es nun Biografien einer mehr kontinuierlichen Entfaltung sind, die einen, wie bei Konrad Adenauer oder bei Willy Brandt, besonders stark in ihren Bann schlagen oder nicht doch gerade jene, in denen, wie bei Herbert Wehner oder Kurt Georg Kiesinger, eher überraschende Wandlungen das Gesamtbild bestimmen - zumal, wenn sie einen für die deutsche Geschichte zwischen Weimar und Wiedervereinigung so charakteristischen "Entwicklungsroman" formen wie das Leben des weithin vergessenen, erst mit der Regierung Merkel/Müntefering wieder ein wenig ins öffentliche Bewusstsein zurückkehrenden dritten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland.
Philipp Gasserts Kiesinger-Biografie ist in ihrem Kern nichts weniger als eine mit kritischer Sympathie und historischem Augenmaß vollzogene Rehabilitierung eines Ministerpräsidenten, CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzlers von Statur. Mit bohrender Unnachgiebigkeit gegenüber seinem Protagonisten und großer Unabhängigkeit von den anscheinend festgefressenen Klischees von dem "Nazi Kiesinger", dem vorwiegend belächelten "wandelnden Vermittlungsausschuss" der Großen Koalition oder dem Unglücksraben, der die Macht in einer Nacht zu Gunsten Brandts und Scheels tölpelhaft habe fahren lassen.
Die Kanzlerjahre von 1966 bis 1969 nehmen in dem wohl proportionierten Werk ungefähr ein Drittel des Umfangs ein. Daneben "erzählt" Gassert, wie er programmatisch betont und es danach auch gekonnt einlöst, von Kiesingers schwäbischer Prägung als "evangelischer Katholik" und von seinem Weg durch die NS-Zeit und in die Politik, wo er es nach Internierung und Entnazifizierung bereits 1948 zum CDU-Landesgeschäftsführer in dem Miniländchen Württemberg-Hohenzollern gebracht hat.
Zwei weitere große Kapitel widmet der Autor dem Parlamentarier in der Ära Adenauer 1949-1958 und Kiesingers acht Jahren als Ministerpräsident in Stuttgart, wohin er sich als mehr oder weniger gescheiterte CDU-Nachwuchshoffnung aus Bonn zurückgezogen hatte. Den Abschluss und Höhepunkt dieser gelungenen Lebensbeschreibung bilden ungemein präzise und plausible "25 Thesen über Kiesinger". Sie dürften dessen Bild in der Zeitgeschichte künftig bestimmen.
Neben der durchweg einfühlsamen und zugleich erfrischend distanzierten Charakterisierung seines schöngeistig und juristisch gleichermaßen profilierten, verbindlich-versöhnlichen, zugleich konservativ-altväterlich und modern, ja visionär denkenden Helden (der es in seiner Eitelkeit und Unlust an geregelter Aktenarbeit durchaus mit seinem berühmten Nachfolger aufnehmen kann) sind es vor allem zwei Leitfragen, die das Werk durchziehen: Kiesingers NS-Vergangenheit sowie seine Stellung innerhalb der christdemokratischen politischen Klasse.
Beinahe zu defensiv stellt Gassert in akribischer Rekonstruktion klar, dass Kiesinger zwar Parteimitglied der NSDAP und im Ribbentrop-Ministerium in keineswegs nebensächlicher Funktion tätig, aber eben doch kein überzeugter Nationalsozialist war, als den ihn Böll, Grass, Jaspers und eine zweifelsfrei exaltierte Beate Klarsfeld hingestellt haben. Freilich ließ sich Kiesinger, der sich wegen seiner Vergangenheit permanent und dramatisch unter Beschuss befand, wie die meisten Ehemaligen immer nur sehr dosiert zu seiner Rolle vor 1945 ein.
Für viele namentlich in der nachwachsenden Generation war ein Pg als Bundeskanzler ein denkbar fatales Signal, für Brandt und Wehner nicht. Der einstige KPD-Funktionär und nun Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen wurde sogar zum verlässlichsten Partner des Kanzlers. So war die belastungspolitische cause célèbre beides zugleich: Symbol für die allzu lange unbeanstandet gebliebene braune Durchseuchung der frühen Bundesrepublik wie für die Tatsache, "dass gerade ein in ein totalitäres System verstricktes und daher notwendig schuldig gewordenes Personal nach 1945 eine stabile demokratische Ordnung schuf", wie Gassert schreibt. Er möchte Kiesingers Nachkriegskarriere sogar "auch als einen Versuch einer Wiedergutmachung" sehen. 1966 stießen sich jedenfalls nur wenige an diesem etwas voreilig zum "Kabinett der nationalen Versöhnung" stilisierten Zweckbündnis.
Die Brücke zur Demokratie bildeten für den ursprünglich antipluralistisch-konservativen Politiker die Leitbilder von der notwendigen Rechristianisierung, Europäisierung und abendländischen Rückbesinnung nach der moralischen Katastrophe des 'Dritten Reiches'. Kiesingers etatistisch geprägtes Demokratieverständnis hinderte ihn jedoch nicht an einer frühzeitigen pragmatischen Zusammenarbeit mit linksliberalen Reformern. Seine Biografie steht geradezu für die "pragmatische Wende" des Nachkriegskonservatismus. Innerhalb der CDU, für die er im ersten und zweiten Bundestag eine bedeutende Rolle als Außenpolitiker, Inspirator des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht und Hauptfigur im Vermittlungsausschuss spielte, fehlte es Kiesinger für den Durchbruch in hohe Ämter immer an einer verlässlichen Hausmacht. Nicht zuletzt deswegen musste er, "unramponiert" wie er war, von dem völlig zerstrittenen Haufen der CDU/CSU-Fraktion der niedergehenden Adenauer/Erhard-Ära wie ein deus ex machina aus der Provinz zurückgeholt werden.
In der deutschen Frage war Kurt Georg Kiesinger unter den damaligen Christdemokraten ein viel zu unzeitgemäßer, unkonventioneller, ja revolutionärer Denker. Seine eigene Partei, vor allem der zerstörungslustige Franz Josef Strauß, fand nicht die Kraft zu erkennen, dass sich die weltpolitische Lage seit Anfang der Sechzigerjahre verändert, man sich der amerikanisch-sowjetischen Annäherungspolitik anzubequemen und die lieb gewonnene These sich mithin überlebt hatte, der Weg zu Frieden und Entspannung in der Welt führe einzig und allein über die deutsche Wiedervereinigung. Umgekehrt wurde inzwischen ein Schuh daraus. Deutschlandpolitisch (auch im Hinblick auf die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie) war der Kanzler seiner bockenden und blockierenden Partei deshalb weit voraus. Erst sein Nachfolger konnte seinen Namen mit dem Triumph einer neuen Ostpolitik verbinden.
All dies analysiert Gassert ebenso plausibel und präzise wie die Konstellationen innerhalb einer aus mächtigen Dickschädeln geformten schwarz-roten Koalition, die dem Bundeskanzler in ihrer explosiven Dynamik überhaupt keine andere Wahl ließ, als durch "Kompromiss und Moderation" zu führen. Gegen die zentrifugalen Profilierungstendenzen der Koalitionspartner im Vorfeld der Wahlen von 1969 war allerdings kein Kraut gewachsen. Sie ruinierten den kooperativen Ansatz Kiesingers binnen weniger Monate.
Auch Philipp Gassert, der "1968" nota bene ruhig und anschaulich zu schildern versteht, folgt dem überwiegenden Urteil der Forschung, die Zeit der Großen Koalition sei eine Zeit des Übergangs zwischen dem "alten und dem neuen Deutschland, der alten Adenauerschen und der sozial-liberal umgegründeten Republik" gewesen, die bedeutsame innenpolitische Reformen vorzuweisen habe. (Die Koalition sei gar "die erfolgreichste Regierung Westdeutschlands" gewesen.) Hier wäre denn auch die einzige Kritik an dieser wichtigen und gut gelungenen Biografie anzusetzen, die einen ebenbürtigen Platz neben den großen deutschen Kanzler-Biographien einnimmt: Die Rolle des Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger bei der Finanzverfassungsreform, bei der Konzertierten Aktion, beim Stabilitätsgesetz, bei der Strafrechtsreform usw. bleibt gegenüber den mit nachgerade kriminalistischer Leidenschaft ausgebreiteten Macht- und Hahnenkämpfen in der CDU und in der Koalition allzu sehr im Dunkeln. Kabale und Chaos dominieren so den Leseeindruck stärker als die bleibenden Leistungen der denkwürdigen Regierung Kiesinger/Brandt. Gleichwohl: Philipp Gasserts Opus ist ein erhellender und qualitätsvoller Beitrag zur Geschichte der alten Bundesrepublik und einer ihrer prägenden Persönlichkeiten.
Klaus-Dietmar Henke