Walter D. Kamphoefner: Westfalen in der Neuen Welt. Eine Sozialgeschichte der Auswanderung im 19. Jahrhundert (= Studien zur Historischen Migrationsforschung; Bd. 15), Erw. Neuausgabe, Göttingen: V&R unipress 2005, 295 S., ISBN 978-3-89971-206-3, EUR 34,00
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Der Band aus der Reihe "Studien zur Historischen Migrationsforschung" ist die erweiterte, ergänzte und durchdachte Neuauflage des unter dem gleichen Titel erschienenen Buches von 1982, das mittlerweile als Standardwerk gelten darf. Während die erste Auflage eine, wenn auch sehr präzise so doch eher eng angelegte Fallstudie war, handelt es sich bei der Überarbeitung um eine exemplarische Studie zur transatlantischen Migration, die in beispielhafter Weise zwischen Makro- und Mikroebene, zwischen Deutschland und Westfalen, zwischen USA und Missouri oszilliert. In sieben Kapiteln wird das Wanderungsgeschehen zwischen Westfalen, (diverse Landkreise - Münster, Tecklenburg, Minden, Osnabrück - im Vergleich) und Missouri (St. Charles und Warren Counties) in der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich. Viele Fragen und Aspekte, die sich in den letzten 30 Jahren deutscher Aus- und amerikanischer Einwanderungsforschung als Weisheiten bzw. Paradigmen erwiesen haben, werden hier im Detail und mit "Fakten" (im besten historischen Sinne) belegt oder als Mythen entlarvt.
Die mit der Auswanderungsforschung vertrauten Leser werden immer wieder überrascht, wenn das eine oder andere lieb gewonnene Ergebnis vornehmlich qualitativer Untersuchungen verworfen wird. Hingegen, diejenigen Leser, die sich ohne großes Vorwissen dem Thema nähern, erhalten eine solide Einführung in die wichtigsten Fragestellungen der europäischen Migrationsforschung.
Die Stärken dieser Arbeit liegen in der Detailgenauigkeit und Quellendichte, die durch jahrzehntelange "Grabungsarbeit" entstanden sind, sowie in der computergestützten Analyse personenbezogener und vernetzter Daten, die es ermöglichen, Personen über den Atlantik zu verfolgen und Entwicklungen über Generationen hinweg nachzuvollziehen. Darüber hinaus beeindruckt immer wieder die Fähigkeit des Autors, analytische statistische Maßzahlen mit qualitativen Quellen wie Ortschroniken, Biografien, Autobiografien, Briefsammlungen usw. zu verbinden, sodass ein recht dichtes und lebendiges Bild dieser Auswanderung entsteht.
Nachdem in der Einleitung die Bedeutung von Kettenwanderung im transatlantischen Spannungsfeld zwischen "Entwurzelung" und "Wiedersehen" aufgezeigt wird, geht es im zweiten Kapitel um die Frage nach den ökonomischen Auslösern für die Migrationsmuster in Norddeutschland. Mehr noch als die Erbteilung erweist sich der Niedergang der Heimindustrie im ländlichen Raum und das Fehlen moderner industrieller Zentren als vornehmliche Ursache für die Auswanderung. Ein Vergleich mit anderen deutschen Wirtschaftsregionen verdeutlicht, dass hohe Bevölkerungs- bzw. Wohndichte nicht unbedingt zu höheren Auswanderungsraten führt. Vielmehr verzeichnen Regionen mit moderner Industrie und hoher Bevölkerungsdichte eine deutlich niedrigere Auswanderungsrate als Regionen mit geringerer Bevölkerung, Protoindustrie und vornehmlicher Agrarstruktur. Es konnte keine Korrelation zwischen Religion und Auswanderung festgestellt werden. Zusammenfassend wird deutlich, dass Auswanderung aus Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts eher auf Push-Faktoren beruhte, denn auf Pull-Faktoren, und dass die Auswanderer doch weitaus ärmer waren, als zumeist angenommen.
Detaillierte Angaben über Berufe, soziale Stellung, Lohnstrukturen und mitgenommenes Vermögen erlauben im dritten Kapitel Aussagen über die soziale Not derjenigen, die sich zur Auswanderung entschlossen haben; negative ebenso wie positive Nachrichten aus den USA wurden in der Regel schnell aufgenommen, wobei den verwandtschaftlichen Informationsnetzwerken eine weitaus höhere Bedeutung zukam als der Propaganda der Auswanderungsagenten. Kampfhoefner geht in seiner Analyse der sozialen Ursachen allerdings noch einen Schritt weiter und macht deutlich, dass wirtschaftliche und politische Motive oftmals eng beieinander lagen. Politische und ökonomische Forderungen aus den Revolutionen von 1830 und 1848 sowie die Aufnahme und der Ausdruck liberaler Ideen in den Tagebüchern und Briefen der Aus- bzw. Einwanderer in Missouri lassen erkennen, dass die Auswanderer wohl eher mit den Füßen, denn durch gewalttätige Umtriebe gegen einen autoritären Staat abstimmten, "der viel von ihnen verlangte, ihnen aber wenig zurückgab" (79).
Mit Blick auf die Siedlungsmuster der Deutsch-Amerikaner bestimmte ein Bündel von Merkmalen die Ansiedlungen der Auswanderer. Kenntnis über die wirtschaftliche Situation vermittelt durch persönliche Informationen vorangegangener Migranten kam dabei die größte Bedeutung zu. Manchmal kamen diese Informanten aus dem Bekanntenkreis, manchmal schenkte man der Werbung der Auswanderungsvereine Glauben, die allerdings der weiteren Bestätigung bedurften. Eigeninitiative und persönliche Netzwerke lenkten die Kettenwanderung in Richtung Missouri, nach St. Charles und Warren Counties. Für die USA insgesamt gilt: Je kleiner die regionalen Analyseeinheiten, desto homogener erscheint die Ansiedlung nach Herkunftsregionen.
Als Nächstes stellt sich die Frage nach den Assimilationsformen. Merkmale wie Heiratsverhalten, Sklavenbesitz, Anbauformen und -methoden, materielle Kultur und geografische Segregation werden zueinander in Beziehung gesetzt. Zunächst hing das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Assimilation vom Zeitpunkt der Ankunft ab. Den frühen Siedlern der 1830er-Jahre fehlten die Nachbarn aus der Heimat, um eine deutsche Siedlung entstehen zu lassen. In den späteren Jahren wird dann eine sehr differenzierte, selektive Assimilation deutlich. Während man bei den Eheschließungen weitgehend unter sich blieb, sich auch geografisch von den "Anglos" und den "Franzosen" fern hielt und den Sklavenbesitz bis auf wenige Ausnahmen ablehnte, so passte man sich in den Anbauformen und -methoden den amerikanischen Gepflogenheiten an. Auch in der materiellen Kultur, etwa beim Häuserbau, orientierte man sich an den lokalen Erfahrungen. Zur Zeit des Bürgerkrieges gab es "nur wenige deutsche Einwanderer, die völlig in die amerikanische Gesellschaft eingegliedert waren. Stattdessen war es die ethnische Gruppe als Ganzes, die sich allmählich und fast unmerklich amerikanisierte" (153). Kamphoefners sorgfältige Analyse der sozialen Mobilität der Auswanderer bestätigt die langläufige Annahme, dass mitgebrachtes Startkapital durchaus zu größerem Wohlstand nach der Ansiedlung führte. Aber auch Besitzlose waren in der Lage, Land zu erwerben. Nach einigen Jahren verringerte sich der ursprüngliche Vermögensunterschied, und Heiraten über alte Klassengrenzen hinweg waren in Missouri weitaus eher möglich.
Abschließend geht Kamphoefner noch einmal der Bedeutung von Kettenwanderung in vergleichender Perspektive nach. Durch Arbeiten über skandinavische, aber auch italienische und irische Einwanderer werden die Beobachtungen über die westfälischen Migranten letztendlich bestätigt: Kettenwanderung ermöglichte Kontinuität und Stabilität, vermittelte Sicherheit und verhinderte eine schnelle Assimilation. Akkulturation erfolgt weitgehend nach eigenen Maßgaben, im selbstbestimmten Ausmaß und Tempo. Zwar verhindert Kettenwanderung die spektakulären - vom Tellerwäscher zum Millionär - Erfolge, sie beschränkt aber auch das vollkommene Scheitern. Da es den meisten Auswanderern, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Land verließen, eher um Sicherheit und um den eigenen Grund und Boden ging, denn um die Ansammlung von Reichtümern, hatte sich für die meisten das Migrationsprojekt gelohnt.
Kamphoefner hat ein historisch präzises und gleichzeitig umfassendes Werk vorgelegt, das viele offene Fragen in der Wanderungsforschung beantwortet. Leider hat er es auch in der Überarbeitung versäumt, sich auf eine "Genderanalyse" einzulassen. Frauen spielen bei den Fragen nach Wanderungsmuster und Wanderungsformen, nach Akkulturationsbedingungen oder sozialer Mobilität keine Rolle. Aber auch die Männer werden nicht in ihren geschlechtsbedingten Verhaltensweisen wahrgenommen. Es wäre interessant gewesen zu sehen, ob und in welchem Maße die Frauen Einfluss auf die Gestaltung von Kettenwanderung nahmen und ob ihre vermeintlich größere Beteiligung an der Landwirtschaft Auswirkungen auf Akkulturations- und Mobilitätsmuster gehabt hätte. Hier wäre noch analytisches Neuland zu erobern gewesen. Dennoch ist es Kamphoefner gelungen, anhand eines regionalen Beispiels das Typische der deutschen transatlantischen Wanderung im 19. Jahrhundert überzeugend herauszuarbeiten.
Christiane Harzig