Rezension über:

Helen Müller: Wissenschaft und Markt um 1900. Das Verlagsunternehmen Walter de Gruyter im literarischen Feld der Jahrhundertwende (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 104), Tübingen: Niemeyer 2004, VIII + 245 S., ISBN 978-3-484-35104-2, EUR 58,00
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Rezension von:
Florian Buch
Universität Kassel
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Florian Buch: Rezension von: Helen Müller: Wissenschaft und Markt um 1900. Das Verlagsunternehmen Walter de Gruyter im literarischen Feld der Jahrhundertwende, Tübingen: Niemeyer 2004, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 12 [15.12.2006], URL: https://www.sehepunkte.de
/2006/12/8904.html


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Helen Müller: Wissenschaft und Markt um 1900

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Helen Müllers Buch "Wissenschaft und Markt um 1900" beleuchtet das verlegerische Handeln Walter de Gruyters, dessen Persönlichkeit für einen Verleger in einer für diese Zeit ungewöhnlichen Weise durch die biografische Nähe zu Industrie und Wirtschaft geprägt war. Der von de Gruyter herbeigeführte Zusammenschluss der vier Verlage I. Guttentag, G.J. Göschen, Karl J. Trübner und Georg Reimer, dessen Entwicklung die Verfasserin detailliert beschreibt, spielte für die deutsche Geistesgeschichte insofern eine bedeutende Rolle, als hiermit eine machtvolle Bündelung von Verlagshäusern entstand, die als ein Teil der Infrastruktur wissenschaftlicher Erkenntnisdistribution in einer formativen Phase der Wissenschaft in Deutschland fungierte.

Beachtlich ist hier insbesondere die enorme Ausweitung von Aktivitäten des wissenschaftlichen Verlegertums, die zugleich noch einmal verdeutlicht, welche Rolle Wissenschaft und Öffentlichkeit um 1900 in Verbindung mit einer weit reichenden Ausdifferenzierung der akademischen Disziplinen und marktbezogenen Funktionen spielten. Dabei nahmen die vier Verlage durchaus unterschiedliche Wege, wie die Verfasserin zeigt. Auch unter der Ägide de Gruyters konnten die Verlagshäuser ihre juristische Selbstständigkeit bis 1919 erhalten und unternehmerisch weitgehend autonom agieren.

Entstanden ist Helen Müllers Buch als Dissertation an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder bei Gangolf Hübinger, der in der Vergangenheit wichtige Beiträge zum Genre der Verlagsgeschichte geliefert hat. Hieran anknüpfend operiert die Arbeit in einer grundsätzlich ambitionierten Weise an den Schnittfeldern von Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte. Auch für die politische Geschichte würden sich hier interessante Anknüpfungspunkte ergeben haben, denen die Verfasserin zumindest teilweise auch nachgeht. Gleichwohl bleiben die Bezüge zu politischen Fragestellungen eher an der Oberfläche, obschon die Zielrichtung der verlegerischen Aktivität de Gruyters, wie die Verfasserin selbst betont, partiell ökonomischer, partiell aber auch "(kultur)politischer" Natur war.

Politische Erwägungen spiegeln sich jedenfalls auch in der Zurückdrängung entsprechender tagespolitisch orientierter Publikationsformen, wie sie etwa bei Georg Reimer eine wichtige Rolle gespielt hatten. Hand in Hand mit der Ausweitung des Massenmarktes ging nämlich, wie Helen Müller zeigt, eine Abwendung de Gruyters von explizit politischen Formaten, insbesondere von denen der Broschüren- und Agitationsliteratur. Im Programm der de Gruyterschen Unternehmen wurde die Ausdifferenzierung von politischer und wissenschaftlicher Literatur überdeutlich, die noch in der Bismarckzeit sehr viel weniger ausgeprägt war.

Die Vorstellung, ein Wissenschaftsverlag habe - zumindest auf dem Gebiet der um ihre eigene Institutionalisierung kämpfenden Sozialwissenschaften - überparteilich zu sein, war insofern sicherlich eine der Neuerungen der Verlagsaktivitäten (41). Anders war dies zwar auf dem Gebiet der Theologie, wobei hier aber der Verdacht nahe liegt, dass die eigentliche wissenschaftspolitische Agenda mit einer liberalen, kulturprotestantischen Richtung harmonierte bzw. von der Wirksamkeit dieses Paradigmas geradezu abhängig war.

Die sich ausdifferenzierende Landschaft wissenschaftlich ausgerichteter Verlagsarbeit fand sich in de Gruyters Portfolio indes in sehr unterschiedlicher Weise wieder. Neben solchen Projekten, die nahezu ausschließlich für wissenschaftliche Bibliotheken erschwinglich waren, stehen auch solche Projekte, die primär der Wissenschaftspopularisierung dienten. Hier ist insbesondere die von de Gruyter 1911 mit dem Verlag Göschen übernommene "Sammlung Göschen" zu nennen.

Aber auch die Wissenschaftsgeschichte selbst ist aufschlussreich. Spannend etwa ist die Darstellung der schließlich immerhin 20-bändigen Dokumentation der Antarktis-Expedition Erich von Drygalskis von 1901 bis 1903. Diese war ein überwiegend durch das Reich finanziertes Unternehmen, sie kann gleichwohl aber als Beispiel für die wissenschaftlich, nicht primär geopolitisch motivierte geografische Erkundung der Welt dienen. Wohl begründet weist die Autorin hier zwar auf die auch politischen Bezüge des Vorhabens hin, vermeidet aber erfreulicherweise mehr oder minder 'naheliegende' Deutungen im Sinne deutscher Welteroberungsfantasien, sondern verweist hier vor allem auf den legitimatorischen Wert, den die politische Ambition hatte, um das wissenschaftliche Vorhaben zu ermöglichen.

Die in Buchform greifbaren Ergebnisse der Expedition waren insofern auch kein Zeugnis einer heroischen Anstrengung im nationalen Interesse, sondern das Zeugnis präziser und disziplinenübergreifender wissenschaftlicher Arbeit auf der Basis nationaler Finanzierung - aber eben auch bezogen auf einen internationalen Markt, der etwa darin Ausdruck fand, dass Drygalski eine Vielzahl internationaler Vorträge hielt und der Verlag nicht zuletzt mit einer international zusammengesetzten Subkribentenliste für das Werk warb.

Aber auch andere Verlagsprojekte in den Unternehmen de Gruyters können als aufschlussreich angesehen werden. Unter anderem wurde hier neben den Sitzungsberichten der Akademie der Wissenschaften in Berlin die maßgebliche Akademie-Ausgabe von Kants Werken im de Gruyter gehörenden Verlag Georg Reimer veranstaltet. An diesem Beispiel wird sehr deutlich, welche verlegerischen Kalküle und Entscheidungen eine Rolle spielten und in welcher Weise diese bis heute autoritative Ausgabe der Werke des Königsberger Philosophen vom Markt angenommen wurde.

Übergreifendes Ziel der Verfasserin ist, exemplarisch zu zeigen, wie die "Kommunikationsbedingungen im Spannungsfeld von Wissenschaft und Öffentlichkeit" strukturiert waren (7). Die Zusammenhänge von Diskursentwicklungen und unternehmerischem Handeln werden dann auch in der Tat in einzelnen Fragen illustriert. Es ist indes bedauerlich, dass sie nicht in stärkerem Maße deutend gebündelt werden. Die Details einzelner Preiskalkulationen, Vertragsabschlüsse oder Absatzzahlen sind zwar für eine im engeren Sinne buchhandels- oder verlagsgeschichtliche Arbeit von einigem Interesse, nehmen aber ansonsten einen Raum ein, der bedauern lässt, dass hieran nicht weitergehende Interpretationen geknüpft worden sind.

Die außerordentliche Zurückhaltung der Verfasserin bei der Deutung der eigenen Rechercheergebnisse jedenfalls verdient zwar sicherlich den Vorzug vor grobschlächtigen Verallgemeinerungen, hätte aber sicherlich doch etwas mehr Raum gelassen, um die eigene Forschungsarbeit anschlussfähiger zu machen und von dem eigenen Interessenschwerpunkt aus die Welt der Verlage, der Wissenschaft und auch des politischen Kommunikationsraumes des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland zu erschließen.

Die Arbeit blickt zwar detailliert auf die Aktivitäten de Gruyters und seiner Verlage, überlässt es aber dem Leser, diese Darstellungen auf das literarische Feld insgesamt zu beziehen. Hier kann das Buch insofern auch nur teilweise einlösen, was sein Titel verspricht. Die eigentliche Geschichte von "Wissenschaft und Markt um 1900" ist wohl erst noch zu schreiben. Der ursprüngliche liberal-rationalistische Anspruch des Verlegers, so erklärt die Autorin zusammenfassend, sei an der Entwicklungsdynamik des Wissenschaftssystems gescheitert bzw. in zahlreiche Widersprüchlichkeiten geraten. Eine Auflösung dieser Widersprüchlichkeit in einer Rekonstruktion der entsprechenden Logiken indes bietet die Verfasserin nur teilweise an. Diese Einsicht, zu der Helen Müller auch selbst gelangt, wenn sie erklärt, dass "Denkmuster [...] bei der häufigen Banalität des verlegerischen Tagesgeschäfts und der mangelnden selbstreflexiven Äußerungen der Verleger häufig nur schwer zu identifizieren" seien (216), kann der Leser des Buches insofern nur mit einem Ausdruck der Anerkennung, aber auch des Bedauerns bestätigen. Zumindest eine wichtige Vorarbeit liegt mit Helen Müllers Buch aber nun vor.

Florian Buch