Wolfgang Hardtwig (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939 (= Geschichte und Gesellschaft; 21), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 376 S., ISBN 978-3-525-36421-5, EUR 39,90
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Die in den letzten Jahren aufgekommene "Kulturgeschichte der Politik", so begründet Wolfgang Hardtwig den von ihm betreuten Sammelband, habe die Verknüpfung von Fundamentalkategorien der historischen Anthropologie "mit den Institutionen, Praktiken und Deutungen von Politik mehr oder weniger ausgespart". Ein solch integrierender Ansatz lasse sich aber konzeptualisieren, "indem man etwa nach der Erfahrung, Deutung und symbolischen Vergegenwärtigung von Raum, Zeit, Körper, Emotion, Wissen, Arbeit, Kommunikation und schließlich der politischen, sozialen, religiösen und intellektuellen Ordnungen im engeren Sinne fragt"(11). Damit ist der sehr, sehr breite Regenbogen geschlagen, unter dem das Deutschland der Zwischenkriegszeit in den folgenden, thematisch und qualitativ heterogenen Beiträgen untersucht wird. Sie behandeln z. B. den Bismarck-Mythos (Eigenbeitrag Hardtwigs), die "körperpolitische" "Konstruktion des Kinderschänders in der Zwischenkriegszeit" (Brigitte Kerchner), "Frauenbewegung und Bewahrungsgesetz" (Matthias Willing), Absatzstrategien amerikanischer Unternehmen in Deutschland im frühen 20. Jahrhundert (Alexanders Schug) oder die politische Mobilisierung der deutschsprachigen Universitätspsychologie zwischen 1918 und 1933 (Gregor Rinn).
Bei einigen Aufsätzen stellt sich der - von der Lektüre anderer kulturalistischer Texte bereits bekannte - Eindruck ein, das Prinzip dieser Methode bestünde mitunter darin, einfache, längst bekannte Wahrheiten in schweifender akademischer Reflexion so lange hin und her zu wenden, bis der Leser meint, einer aufregenden Neuentdeckung beizuwohnen. So kommt Thomas Mergel, ausgehend von der nun wirklich revolutionären Erkenntnis, dass die Stabilität politischer System wesentlich auch von den Erwartungen seiner Bürger abhänge, nach Untersuchung der Diskurse über Führer und Volksgemeinschaft in der Weimarer Republik zu dem bemerkenswerten Ergebnis: "Die Rollen, wie sie sich in den Begriffen 'Führer' und 'Volksgemeinschaft' äußerten, verbanden Unmittelbarkeit, Kontingenz und eine Gleichheit, in der jeder seinen Platz hatte - vorausgesetzt er gehörte dazu."(127) Dort wo es konkreter wird, ist es manchmal auch noch ziemlich schief: Die Stabilität der Dritten Französischen Republik hatte jedenfalls viel mehr mit dem Mythos von 1789 und der Genese einer republikanisch-laizistischen Mentalität am Ende des 19. Jahrhunderts zu tun als mit "geringen Erwartungen" ihrer citoyens. Um das zu wissen, müsste man indes, statt eine Gesamtdarstellung aus den frühen 1980er-Jahren zu konsultieren, die umfangreiche Spezialforschung zum deutsch-französischen Vergleich aus den letzten Jahren zur Kenntnis nehmen. Ein Defizit, das bei dem komparatistisch angelegten Beitrag von Christian Weiß über die Kontakte des pazifistischen deutschen Kriegsopferverbandes des "Reichsbundes" zu den französischen anciens combattants noch stärker ins Auge fällt.
Keinen sehr großen Erkenntnisgewinn vermittelt auch John Hornes Untersuchung der Frage, ob "Kulturelle Demobilmachung 1919-1939" ein sinnvoller historischer Begriff sei. Dass ein grundlegender Unterschied bestand zwischen den Verlierern des Ersten Weltkriegs und den Siegernationen, in denen sich die Stimmung gegen Werte und Vorstellungen wandte, "die zukünftige Kriege in sich bargen" (149), konnte man jedenfalls auch andernorts in ganz konventioneller Politikgeschichte bereits x-mal lesen. Da freut man sich dann schon, wenn Frank Bösch in einem der klarsten - und am wenigsten von kulturalistischen Methodenaplomb durchwirkten - Beiträge ("Militante Geselligkeit") im Wesentlichen eine solide Zusammenfassung früherer quellengesättigter Untersuchungen zur bürgerlichen Vereinswelt bietet.
Unter den Aufsätzen, die man mit größerem Erkenntnisgewinn liest, ist zunächst Frank Beckers "Autobahnen, Auto-Mobilität. Die USA, Italien und Deutschland im Vergleich" zu nennen. Er thematisiert u. a. die Frage nach den "Austauschprozessen" zwischen diesen drei Ländern, nachdem die Detroiter Fordwerke als erstes Prinzipien entwickelt hatten, die das Automobil "von einem technischen Artefakt in den Träger einer sozialen und kulturellen Utopie verwandelten" (25). Becker kann aufzeigen, dass die Nationalsozialisten vom Vorbild der italienischen Autostrade zwar angeregt wurden, aber die dort dominierenden geraden Pisten, die wenig Rücksicht auf die umgebende Natur nahmen, nicht akzeptierten. "Deutsche" Technik sollte auch noch "schön" sein, und so bestand Hitler bei der Planung der Autobahn München-Salzburg auf der - im Winter bis heute gefürchteten - Strecke über den Irschenberg (die einen herrlichen Blick ins Alpenvorland ermöglicht), statt eine noch dazu billigere Umgehung zu bauen. Die amerikanischen Streckenplaner beriefen sich nach dem Zweiten Weltkrieg dann zwar immer wieder auf die Reichsautobahnen, verzichteten aber zunächst fast vollständig auf Kurven und einen schwingenden Streckenverlauf. Nicht nur Gründe der Wirtschaftlichkeit und der Zeitersparnis spielten dabei eine Rolle, sondern auch kulturelle Faktoren: "Die gerade Linie drückt eine technische Rationalität aus, die zu den Grundlagen der amerikanischen Kultur gehört [...] Der freie Blick zum Horizont steht für den Aufbruch in die neue Welt" (54).
Ähnlich anregend ist der Text von Sven Reichardt über "Gewalt, Körper, Politik", der nach einer kritischen Einführung in die Methodik der Körpergeschichte auch einige empirisch fundierte Ergebnisse liefert. Besonders aufschlussreich ist seine Schilderung des Bildes vom "Kriegskrüppel", das zum Ausgangspunkt für die rassistischen Vorstellungen vom "arischen" SS-Körper wurde. Die ansonsten pathetische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Form von Heldendenkmälern und martialischer Literatur, so Reichardt, "kontrastierte auffällig mit der gleichzeitigen Marginalisierung der Kriegsbeschädigten" (211). Denn im "beschädigten Soldatenkörper symbolisierten und spiegelten sich zunehmend Tod, Niederlage und Zerstörung des nationalen Körpers, die in weiten Teilen der Nachkriegsgesellschaft verdrängt wurden" (213). Die so genannten "Kriegszermalmten" waren, wie der Vorsitzende des sozialdemokratischen Reichsbundes der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen 1920 schrieb, in der nationalen Erinnerung an den unverwüstlichen deutschen Mann unerwünscht (214). Ein Ernst Röhm durfte sich vor diesem Hintergrund stets nur von seiner "Schokoladenseite" fotografieren lassen, nicht von der anderen Seite, die erkennen ließ, dass ihm eine Gesichtsverletzung die halbe Nase gekostet hatte. Paradox sei dies alles aber auch insofern gewesen, als der typische Soldat nicht etwa als "militärischer Desperado" à la Ernst Jünger heimkehrte, sondern als Bombenneurotiker und Kriegszitterer.
Bezieht man die ergiebigeren Beiträge des Sammelbandes in das Gesamturteil ein, so lässt sich mit Goethe resümieren: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Natürlich unterlaufen einem Profi wie Hardtwig in seiner eleganten Einleitung auch nicht die Fehler kulturalistischer Eiferer, die pauschal die Krisenhaftigkeit der Weimarer Politik, Gesellschaft und Kultur in Frage stellen. Und doch hat sich die Verheißung des Klappentextes, neue Antworten auf die Grundfrage der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zu geben: "Wie war es möglich, dass der Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft Fuß fassen konnte?", zumindest für den Rezensenten nicht erfüllt. Der sehr ambitionierte Titel dieses Sonderheftes von "Geschichte und Gesellschaft" müsste denn auch treffender lauten: Beiträge zu einer politischen Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit.
Manfred Kittel