Gisela Bungarten: J. H. Füsslis (1741-1825) "Lectures on Painting". Das Modell der Antike und die moderne Nachahmung (= Berliner Schriften zur Kunst; Bd. 21), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2005, 2 Bde., 362 S. + 484 S., 24 Farb-, 60 s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2514-3, EUR 108,00
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Henry Fuseli, als Johann Heinrich Füssli 1741 in Zürich geboren, wurde 1799 - nach Abschluss seines Grossprojekts "Milton-Gallery" - zum Professor für Malerei an der Royal Academy of Arts in London ernannt. Von 1800 bis zu seinem Tode 1825 hielt er mit kurzen Unterbrechungen regelmäßig Vorlesungen zu kunsthistorischen und -theoretischen Themen. Der Maler, in seiner Jugend zum Theologen ausgebildet, sicherte sich die Bewunderung seiner Schüler vor allem durch sein enzyklopädisches Wissen, weniger durch sein malerisches Können oder das pädagogische Einfühlungsvermögen. Er behandelte in seinen Vorlesungen alle für die damalige Praxis geforderten Fähigkeiten von der Invention und Komposition über die Zeichnung und das Helldunkel bis zum Kolorit. Die meisten der insgesamt zwölf Vorträge wiederholten sich mit kleineren und größeren Variationen im Laufe der Jahre. Nun liegen diese Dokumente, die für die theoretische und praktische Auseinandersetzung mit Kunst um 1800 von allgemeiner Bedeutung sind, erstmals in einer textkritischen Edition vor.
Grundlage der vorliegenden Texte von Füssli, in einem eigenwilligen, aber prägnanten Englisch gehalten, ist immer noch die Fassung von John Knowles, des treuen Freundes und Nachlassverwalters des Künstlers, aus dem Jahre 1831. Abweichungen und Streichungen von anderen gedruckten Ausgaben und den Manuskripten, die zum Großteil im Kunsthaus Zürich aufbewahrt werden, sind in den Fußnoten dokumentiert. Da die Publikation im Rahmen einer Doktorarbeit an der Freien Universität Berlin entstand, hat die Autorin Gisela Bungarten dem Textband einen ausführlichen Kommentarband beigegeben, in dem alle erwähnten Künstler, Kunstwerk und Quellen identifiziert und wichtige kunsttheoretische Fragen erörtert werden. Den Vorträgen des Künstlers sind erstmals Abbildungen der darin erwähnten Kunstwerke beigegeben. Der Analyseband besticht durch seine Balance zwischen Nähe und Distanz zu seinem Objekt und vermeidet wohltuend jede Polemik. Er bereichert die Forschung zu Füssli und zu seinem weit verzweigten Umfeld in wesentlichen Teilen. Aus diesem Grund mag man es bedauern, dass nur der erste Band durch ein Register erschlossen wird. Dieses ist dafür, im Vergleich zu Gert Schiffs monumentalem Œuvrekatalog Füsslis, wohltuend übersichtlich. Die Autorin sieht in den Vorlesungen die Summe der künstlerischen Überlegungen Füsslis, deshalb findet die Einordnung in sein übriges, umfangreiches theoretisches Werk - Aphorismen, Zeitschriftenartikel, Briefe - nur andeutungsweise statt. Die schon von Eudo C. Mason geäußerte These, Füssli sei als Malerprofessor aus Rücksicht auf die Gewohnheiten und Aufgaben der Ausbildungsstätte konventioneller gewesen als bei den übrigen Äußerungen, die er zum Druck brachte, kann so nicht abschließend beantwortet werden.
Für Füssli, so frühromantisch, wild und "gotisch" er sich als Künstler auch gebärdete, war das griechische und römische Schrifttum zur Kunst, Kunsttheorie und Rhetorik wichtigster Teil des Kanons. Am Zürcher Carolinum zum Pfarrer ausgebildet, las er die Theoretiker in der Originalsprache und unterzog die Texte und ihre Inhalte einer kritischen Analyse. Auch zeitgenössische Vorlagen von André Félibien bis Joshua Reynolds und James Barry redigierte und veränderte er, wie dies Bungarten belegen kann. Selektion und Interpretation kennzeichnen den Umgang mit den Gedanken anderer - die verehrten Lehrer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger nicht ausgenommen. Die kritische Überprüfung der Textbedeutung war nach Ansicht des Künstlers dort notwendig, wo der Leser anhand der Beschreibungen Schlüsse auf Erscheinung und Ausdruck einzelner Kunstwerke zog, um - nach akademischem Muster - die Verdienste der Antike gegen die der Moderne abzuwägen. Das Problem stellt sich vor allem bei der Malerei, da die in den Schriften gepriesenen antiken Meisterwerke nicht mehr existieren.
Füsslis Beziehung zu Zeitgenossen war kritisch - besonders zwiespältig begegnete er den Positionen Winckelmanns. Seit seiner Jugend in Zürich mit dessen Gedanken vertraut, übersetzte er in seinen ersten Jahren in London, 1764-1770, wichtige Schriften des Klassizisten. Während seines mehrjährigen Romaufenthaltes begann Füssli an dessen Urteilsfähigkeit zu zweifeln. Wo immer er sich in den Vorlesungen auf ihn bezog, geschah dies in einem distanzierten oder gar verächtlichen Ton. Auf der anderen Seite übernahm er viele seiner Ansichten wie die Klimatheorie, aber auch die Beschreibung und Wertung antiker Bildwerke stillschweigend. Füssli hat sich, das wird in der Publikation zu wenig besprochen, über zahlreiche Kunsttheoretiker und Künstler, bei denen er Anleihen machte, abschätzig geäußert, um die Eigenständigkeit seiner Lösungen und Ideen herauszustreichen und dadurch das Image eines Originalgenies zu pflegen. Auch die harte Kritik an den Michelangelonachfolgern und Manieristen innerhalb der theoretischen Produktion Füsslis muss als Teil der Selbststilisierung gewertet werden, denn nachweislich hat er Pathosformeln von Künstlern wie Parmigianino, Pellegrino Tibaldi oder Baccio Bandinelli übernommen. Zu dieser Strategie gehört, dass er zahlreiche Schriftsteller, die er benutzte, gar nicht namentlich erwähnte: Lessing, Goethe, Heinrich Meyer.
Die schon von Zeitgenossen aufgestellte und oft kolportierte Behauptung, Füssli habe nach seiner endgültigen Niederlassung in London 1779 schnell die Verbindungen zum deutschsprachigen Kulturkreis abgebrochen, ist dank der vorliegenden Publikation endgültig als Legende entlarvt. Besonders die für Füssli wichtige Unterscheidung zwischen epischer, dramatischer und historischen Malerei, seine Gattungssystematik im Allgemeinen, erweist sich als eine Umarbeitung von Johann Heinrich Meyers (Goethe-Meyer) Abhandlung "Über die Gegenstände der bildenden Kunst".
Durch Anschauung und durch die Lektüre einschlägiger Handbücher hat sich der Autodidakt Füssli die praktische Seite seines Metiers angeeignet. Seine Annäherung an die Farbe war ein lebenslanger und schwieriger Prozess. Zu den Bereichen Zeichnung, Kolorit oder Komposition - in der Ausbildung an einer Kunstakademie um 1800 immer noch zentral - finden sich in den Vorlesungen nur wenige neue Erkenntnisse. Viel mehr Gewicht, auch dies arbeitet Bungarten gut heraus, legte Füssli auf die Stoff- und Motivfindung (Invention) und auf die Beantwortung der Frage, wie das Verhältnis der verwandten Künste, Dichtung und Malerei, im Ausdrucksbereich (Expression) aussieht. Dabei scheint Füssli unter dem Einfluss der antiken Rhetorik zu stehen, bei der das Dreigestirn (inventio, dispositio und elocutio) auch eine bedeutende Rolle spielt.
Bungarten wirft die Frage auf, ob die Gegensätze zwischen den kunsttheoretischen Positionen und der künstlerischen Praxis bei Füssli tatsächlich so groß sind, wie in der bisherigen Literatur angenommen, bleibt jedoch eine Antwort schuldig. Dort, wo Füssli als Theoretiker das Verhältnis von künstlerischer Erfindungskraft und Fantasie zu definieren und den Spielraum der Imagination auszudehnen versucht, ist die Nähe zum Zeichner und Maler mit Händen zu greifen: ansonsten ist eher die Diskrepanz sichtbar. Hier bleibt zukünftiger Forschung also noch einiges zu tun - das Feld dafür ist dank der vorliegenden Arbeit gut bestellt.
Matthias Vogel