Friedrich Meinecke: Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910-1977. Eingeleitet und bearbeitet von Gerhard A. Ritter (= Biographische Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 23), München: Oldenbourg 2006, 514 S., 19 Abb., ISBN 978-3-486-57977-2, EUR 59,80
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Es war gewiss ein glücklicher Zufall, dass Gerhard A. Ritter im Jahre 2004 gebeten wurde, in Salzwedel, dem Geburtsort Friedrich Meineckes, zu dessen 50. Todestag einen Vortrag zu halten. Für Ritter bildete dies nicht nur den Anlass, seine eigenen Erinnerungen an Friedrich Meinecke aus dem Berlin der frühen 50er-Jahre zu aktivieren, sondern auch den Briefwechsel Meineckes mit seinen emigrierten Schülern noch einmal genauer zu untersuchen. Ergebnis dieser Untersuchungen ist der vorliegende Band, der knapp 200 aussagekräftige Stücke dieses Briefwechsels sowohl aus dem Nachlass Meineckes als auch aus den Nachlässen der Schüler publiziert, einordnet und interpretiert. Eine pointierte Würdigung Meineckes als Historiker und akademischer Lehrer und kundig-knappe Würdigungen seiner emigrierten Schüler bilden eine 110 Seiten umfassende Einleitung.
Die Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg ist in den letzten anderthalb Jahrzehnten erfreulich in Bewegung geraten. Dafür waren weniger die pure historiografische Erkenntnislust und personengeschichtliche Entdeckerfreude verantwortlich als vielmehr eine intensivierte Nachfrage nach der Rolle jener Historiker, die nach ihrer fachlichen Sozialisation im 'Dritten Reich' und ihrer mehr oder weniger starken Rolle im nationalsozialistischen Wissenschaftssystem die führenden Positionen in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft übernahmen und damit für die Ausbildung vieler der führenden Historiker dieses Landes verantwortlich waren. Darüber ist die Untersuchung der Rolle der aus rassischen und politischen Gründen emigrierten Historiker jedoch keineswegs vergessen worden, und erfreulicherweise ist die Erforschung der Vertreibung deutscher Hochschullehrer aus dem nationalsozialistischen Deutschland in den letzten beiden Jahrzehnten erheblich vorangekommen. Auf der Basis des "Biografischen Handbuchs der deutschen Emigration" sind Spezialstudien zu einzelnen der emigrierten Historiker, aber auch wichtige Sammelbände zu deren Wirken und Wirkungen in den Vereinigten Staaten und in der Bundesrepublik vorgelegt worden, gerade in den letzten Jahren sind biografische Studien zum Beispiel über Hans Rothfels, aber auch zusammenfassende Interpretationen entstanden.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders zu begrüßen, dass sich Ritter noch einmal genauer den Briefwechsel zwischen dem (1942) 80-jährigen Berliner Emeritus und seinen v. a. in die USA emigrierten Schülern angesehen hat, der in der Edition der Meinecke-Briefe von 1962 keine herausragende Rolle spielt. In der von L. Dehio und P. Classen besorgten Edition des "Ausgewählten Briefwechsels" tauchen von den hier genannten Historikern nur Hajo Holborn (mit 5 Briefen), Hans Rothfels (4) und vor allem der "liebe Freund" Gustav Mayer (10) auf. Hervorzuheben ist, dass die Edition keineswegs nur auf den im Meinecke-Nachlass erhaltenen Briefen (und anderen personengeschichtlich relevanten Aufzeichnungen) aufbaut, sondern auch in einer Reihe anderer Nachlässe und Archivbestände Recherchen angestellt wurden, in denen sich wichtige Ergänzungen fanden. Vor allem die Briefe, die zwischen den Schülern Meineckes gewechselt wurden, werfen oft ein klareres Licht auf den "Meister" als die Briefe an Meinecke selbst, die überwiegend im Ton der Bewunderung und Ehrerbietung geschrieben sind, Ausnahmen von dieser Regel sind noch zu erwähnen. Das Hauptinteresse des Herausgebers besteht ganz offensichtlich darin, neben dem hinlänglich gewürdigten oder auch kritisierten Historiker Meinecke stärker den akademischen Lehrer und dessen Wirkungen auf seine Schüler herauszustellen. In der Analyse der gewechselten Briefe ergibt sich eine interessante Möglichkeit, die wissenschaftlichen Positionen der Briefpartner genauer zu analysieren. Nicht zuletzt ist der gesamte Briefwechsel ein überzeugender Beleg für die Anhänglichkeit der emigrierten Schüler an ihren Lehrer und darüber hinaus an das von ihm repräsentierte System der deutschen Geschichtswissenschaft, die auch die verstörende Erfahrung des Holocaust zu überdauern vermochte.
Der Aufbau des Bandes ist folgerichtig und informativ angelegt: Einer eindringlichen Würdigung Meineckes als Historiker, Zeitgenosse und akademischer Lehrer folgen - wie schon angedeutet - jeweils 3-10-seitige Vorstellungen der in die Sammlung aufgenommenen Briefpartner (13-111). Neben den vermutlich bekannteren Meinecke-Schülern wie Hans Baron (der als Einziger nach 1945 mit Meinecke nicht in Briefkontakt stand, wohl aber mit Walter Goetz), Dietrich Gerhard, Felix Gilbert, Hedwig Hintze, Hajo Holborn, Eckart Kehr, Gerhard Masur, Hans Rosenberg und Hans Rothfels werden auch der später in der Wirtschaft tätige Neuzeithistoriker Hans Günther Reissner und die Mediävistin und Bibliothekarin Helene Wieruszowski vorgestellt und mit ihren Briefen aufgenommen. Eine Sonderstellung nimmt daneben noch Gustav Mayer ein, der freilich nicht Meineckes Schüler war, ihm aber seine Professur in Berlin verdankte und mit Meinecke eng verbunden war. Im Schlusskapitel der Einleitung versucht Ritter eine knappe Bilanz der Wirkungen der Meinecke-Schüler auf die Beziehungen zwischen deutscher und amerikanischer Geschichtswissenschaft, wobei er auch auf die bemerkenswerten Ehrungen hinweist, die Meinecke vor allem während seiner USA-Reise im Jahre 1936 und unmittelbar nach Kriegsende erfuhr.
Das eigentliche Kernstück des Bandes aber bilden die Briefe, die zwischen den neuen Wirkungsorten der Emigranten und Berlin-Dahlem gewechselt wurden. Sie enthalten das ganze Spektrum der persönlichen und wissenschaftlichen Beziehungen der Briefpartner, sie beeindrucken natürlich vor allem durch die persönlichen Schilderungen der tiefen Hoffnungslosigkeit nach der erzwungenen Emigration. Es wäre freilich falsch anzunehmen, dass in der Edition nur die Zeitspanne der Emigration behandelt würde. Die Briefe setzen erheblich früher ein, bei Gustav Mayer schon 1910, bei Hans Rothfels und Dietrich Gerhard 1914, bei den anderen meist in den 20er-Jahren, als für die frisch gebackenen Doktoren die Zeit der beruflichen Neuorientierung begann und sie dabei natürlich auf Begleitung manchmal auch die Hilfe des seit 1928 emeritierten Berliner Geheimrats angewiesen waren. Die Edition endet auch nicht etwa mit Meineckes Tod 1954, sondern sie geht bis in das Jahr 1977. Dies verdankt sich vor allem der relativ starken Berücksichtigung des Briefwechsels von Hans Rosenberg mit deutschen Kollegen, nicht zuletzt mit dem Herausgeber selber. Damit wird die besondere Bedeutung des Briefwechsels für die Neuorientierung der deutschen Nachkriegsgeschichtswissenschaft noch einmal herausgehoben. Auch wird so vielfach erkennbar, dass Ritters Edition nicht vorrangig dem Quellenbestand in seinen definierten Grenzen folgt, sondern sich eher als quellenmäßige Unterfütterung einer bestimmten Deutung der Modernisierungsgeschichte der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft versteht.
Der Reichtum des Materials, das sich bei der Lektüre der Briefe erschließt, kann hier nur angedeutet werden. Einige Grundzüge sollen freilich herausgehoben werden, weil sich durch diese Lektüre ein vorzüglicher Einblick in das Binnenleben der deutschen Universität der Zwischenkriegszeit gewinnen lässt. Besser als jede trockene ex-post-Analyse vermitteln die Briefe einen lebendigen Eindruck von den Machtstrukturen des Systems - etwa der De-facto-Stipendienkasse der von Meinecke geleiteten Historischen Reichskommission oder der von ihm herausgegebenen Historischen Zeitschrift. Auch die vorauseilende Entlassung von Hedwig Hintze als Rezensentin dieser Zeitschrift durch Meinecke und Brackmann wird ebenso dokumentiert wie der in seiner klaren Diktion immer noch beeindruckende Brief Otto Hintzes, der dem Jugendfreund versichert, er wolle fürderhin nicht an einem Unternehmen mitwirken, das als "Ziel unter anderem proklamiert, dass das Jahr 1789 aus der Weltgeschichte gestrichen werden soll und dass in 50 Jahren in Deutschland kein Mensch mehr wissen soll, was das Wort Marxismus bedeutet."
Daneben wird deutlich, wie wenig monolithisch die deutsche Geschichtswissenschaft auch dieser Zeit war. Nicht nur wird die Kritik der Zunftgenossen an Meineckes Ideengeschichte erkennbar, auch die Differenzen der Schüler untereinander werden verdeutlicht. Damit ist wohl eines der beeindruckendsten Merkmale der Gruppe der Schüler Meineckes erwähnt, die sich kaum auf einen wissenschaftlichen Nenner bringen lassen. Meineckes offener methodischer Zugriff reizte offensichtlich ganz verschiedene Talente und politische Orientierungen, auch wenn sie sich in der konkreten Arbeit durchaus vom Lehrer entfernten. Ganz zu schweigen von den politischen Positionen, die die Gruppe der Schüler oft mehr trennte als verband: Von den nationalkonservativen Positionen eines Hans Rothfels und Gerhard Masur bis zu den "Linksaußen" wie etwa Hedwig Hintze und Eckhart Kehr fanden sich ganz unterschiedliche junge Talente bei dem Mann zusammen, der sich als "verfassungstreuer Hochschullehrer" zur Weimarer Republik bekannte, und der 1935 von den Nationalsozialisten als Herausgeber der HZ abgesetzt wurde.
Herauszuheben sind auch die Differenzen, die sich zwischen Meinecke und seinen Schülern ergaben, auch dies wohl ein Beleg für die offene und scheinbar auch belastbare Gesprächsatmosphäre des Kreises. Deutlich wird dies zum einen in der Kontroverse zwischen Rothfels und Meinecke, als es um die Förderung der Arbeiten von liberalen Historikern (Gustav Mayer und Veit Valentin) durch die Historische Reichskommission ging, der Rothfels heftig und aus eindeutig politischen Gründen widersprach. Es zeigt sich aber auch in dem methodischen Dissens zwischen Rosenberg und Meinecke und im Disput über dessen "Deutsche Katastrophe".
Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Schüler Meineckes in den Vereinigten Staaten eine bemerkenswerte Wirkung ausgeübt haben. Sie trafen sich nicht nur anlässlich der AHA-Treffen am Jahresende und sprachen dort ausführlich über Meinecke, sondern sie gewannen wichtige Positionen wie Hajo Holborn als AHA-Präsident oder wurden wegweisende Persönlichkeiten, die bestimmte Forschungsrichtungen begründeten wie etwa Hans Baron und Felix Gilbert, denen die amerikanische Renaissanceforschung so wichtige Anstöße verdankt, die noch heute erkennbar sind. Ebenso unverkennbar ist die Wirkung, die einige der Emigranten in der jungen Bundesrepublik hatten. In der Person Gerhard Ritters selbst werden jene Anstöße erkennbar, die Hans Rosenberg ihm und anderen während seiner Berliner Gastsemester geben konnte. Insofern ist der Band neben aller Bedeutung als historiografiegeschichtliche Quellensammlung erster Güte auch der eindrucksvolle Beleg eines persönlichen Dankes an eine Gruppe von Historikern, die Deutschland zwar verlassen mussten, ihm aber trotz des "Bruchs" (Reissner) und des "breiten Blutstroms" (Mayer) verbunden blieben.
Winfried Schulze