Margret Lemberg (Hg.): Heinrich von Sybel und Eduard Zeller Briefwechsel (1849-1895) (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen; Bd. 23), Marburg: Elwert 2004, XI + 445 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-7708-1261-5, EUR 42,00
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Den liberal-konservativen Historiker Heinrich von Sybel (1817-1895) und den protestantischen Theologen und Philosophen Eduard Zeller (1814-1908) verband eine lebenslange Freundschaft. Die Vertrautheit der beiden Gelehrten und die enge Verbundenheit ihrer Familien hat ihren Niederschlag in einem zeitweise ungewöhnlich dichten Briefwechsel gefunden, der von Zellers Berufung an die Universität Marburg im Revolutionsjahr 1849 bis hin zu Sybels Lebensende im Sommer 1895 reicht.
Die Originalbriefe sowohl Zellers als auch Sybels verwahrt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Marburg (Dep. Zeller). Dort würde man sie eigentlich nicht vermuten. Die Bibliothek verdankt den Besitz schlicht dem Umstand, dass sie 1939 den wissenschaftlichen Nachlass des in Marburg verstorbenen Theologen Adolf Jülicher (1857-1938) erwarb. Mit dem Nachlass wurde ihr auch der Briefwechsel Sybel / Zeller übergeben. Jülicher hatte sich die Korrespondenz in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg von den Söhnen der Briefpartner zur Einsichtnahme erbeten, entweder in der Absicht, über Zeller biografisch zu arbeiten, oder auch nur, weil er "ein vollständigeres Bild" (12) von dem zu seiner Zeit heftig kritisierten Theologen der Tübinger Schule erhalten wollte. Weder eine biografische Zeller-Studie noch das zumindest zeitweilige Vorhaben, einige der Briefe zu publizieren, wurden indes realisiert. Über die Gründe lässt sich bei der gegenwärtigen Forschungslage nur spekulieren. Sicher ist, dass die ausgeliehenen Briefe nie ordnungsgemäß an die Familien Sybel / Zeller zurückgegeben wurden.
Der Marburger Historikerin Margret Lemberg kommt das Verdienst zu, den gesamten Briefwechsel vollständig und ohne jede Kürzung ediert, eingeleitet und kommentiert und damit wissenschaftlich Interessierten bequem zugänglich gemacht zu haben. Insgesamt handelt es sich um 151 Schriftstücke, die in chronologischer Ordnung in fünf Abteilungen - jeweils mit Blick auf den Aufenthaltsort der Briefpartner - präsentiert werden: Briefe im Zusammenhang mit Zellers Berufung nach Marburg (I), von Sybels Reisen nach Genua, Den Haag, Paris und Naumburg (II), aus München und Marburg 1856-1861(III), aus Bonn und Marburg bzw. Heidelberg 1861-1872 (IV) und aus der gemeinsamen Berliner Zeit 1874-1895 (V).
Was bietet der Briefwechsel? Der Ranke-Schüler Heinrich von Sybel war zu seiner Zeit einer der führenden Historiker der kleindeutsch-preußischen Richtung; er war ein politisch aktiver, liberal-konstitutioneller Gegner des reaktionären kurhessischen Ministeriums Hassenpflug wie später der konservativen Politik Bismarcks während des preußischen Verfassungskonflikts [1], dann ein Mitstreiter des Reichskanzlers im Kulturkampf; in den Münchener (1856-1861) und Berliner Jahren (1875-1895) war er in seinem Fach ein überaus effektiver Wissenschaftsorganisator (Gründung der Historischen Zeitschrift, der Historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften, des Münchener Historischen Seminars; Generaldirektion der preußischen Staatsarchive). Eduard Zeller, ein Schüler und Schwiegersohn des Tübinger Theologen Christian Baur, zählt innerhalb der protestantischen Theologie zu den bedeutendsten Vertretern der historisch-kritischen Methode; sein philosophisches Hauptwerk, eine fünfbändige griechische Philosophiegeschichte, wurde zuletzt 1990 nachgedruckt; seine außergewöhnlichen wissenschaftsorganisatorischen Leistungen, die denen Sybels vergleichbar sind, wirken bis heute nach. Wer vor diesem Hintergrund zwischen Sybel und Zeller eine Diskussion politischer, fachlicher oder wissenschaftsstrategischer Problemfelder auf hohem Niveau oder gar einen stilisierten, mit dem Gedanken an eine Veröffentlichung verfassten Briefwechsel erwartet, wird enttäuscht. Denn die Briefe setzen sich mit tagespolitischen, forschungsbezogenen und wissenschaftsorganisatorischen Fragen in der Regel in einer höchst pragmatischen, realitätsbezogenen oder praktischen Weise auseinander.
In Sybels Münchener Zeit erreicht der Briefwechsel seine größte Dichte. Vor allem hier vermittelt die Korrespondenz ein anschauliches Bild von dem Alltag einer Akademikerfamilie Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei kontrastiert die kleinräumig-enge, kulturpolitisch nahezu vergessene Universitätsstadt Marburg in reizvoller Weise mit der aufstrebenden, kulturell expandierenden Residenzstadt München. Die überaus rege Mitteilsamkeit der Briefpartner beruht auf einem konkreten Versprechen: In Marburg wohnten die Sybels und Zellers unter einem Dach (nämlich in Sybels Haus Am Plan 3), wo sie derart "zusammenwuchsen", dass die Freunde bei Sybels Abschied nach München vereinbarten, sich monatlich mindestens einen Brief zu schreiben. Da der Nachrichtenaustausch die Interessen der Ehefrauen mit einbezog, fehlt es nicht an anekdotenhaften Geschichten über Kollegen, die Lebensumstände oder den Hof und seinen Regenten (Sybel gehörte zeitweilig zum engeren Kreis der Ratgeber König Max' II.). Auch Klatsch und Tratsch kommen nicht zu kurz. So enthält der Briefwechsel, der in zahlreichen biografischen und kulturgeschichtlichen Details "hinter die Kulissen" blicken lässt, viel Marburger und Münchener Kolorit.
Einzelnen Briefen kommt für die Geschichte des politischen Liberalismus und die deutsche Universitätsgeschichte besondere Bedeutung zu, andere erhellen die Besetzung von Lehrstühlen und wissenschaftlichen Schlüsselpositionen, natürlich auch persönliche Karriereentscheidungen. Nirgendwo sonst äußert sich Sybel zum Beispiel offener über die Gründe seines Scheiterns in München als gegenüber Zeller. War er Anfang 1860 noch optimistisch, "auf diesem Boden die Sünden des 16. Jahrhunderts repariren und eine neue geistige Epoche einführen zu helfen" (283), so klagte er ein Jahr später, dass ihm "die hiesigen Ultramontanen [...] bei König, Kammer und Publicum Steine in den Weg" (303) wälzten, um schließlich zu resignieren: Nachdem ihm Max II. drei Jahre lang "in jeder Weise angezogen, distinguirt und consultirt" hätte, sei er "der Gegenstand unendlichen Neides und Zornes" und für den König unhaltbar geworden. Den letzten Ausschlag für den Vertrauensverlust habe sein abwertendes Urteil über die bayerische Triaspolitik gegeben ("entweder eine Chimäre oder der Rheinbund", 315). [2]
Diese Offenheit verdankt der Leser der ungetrübten Vertrautheit zwischen beiden Briefpartnern. Ihre Freundschaft hatte in der ehemaligen Hausgemeinschaft, in der engen Verbundenheit der beiden Ehefrauen, Caroline von Sybel und Emilie Zeller, der Übereinstimmung in wesentlichen Fragen der Politik, der gemeinsamen liberal-konstitutionellen, pro-preußischen Haltung und einem kulturkämpferisch-aufklärerischen, aller Orthodoxie abgeneigten Protestantismus eine dauerhafte Grundlage. Sicher hat auch die unterschiedliche Natur der beiden Freunde sowie die Tatsache, dass sie verschiedene Disziplinen vertraten und sich so in ihren beruflichen Interessen nicht ins Gehege kamen, einer möglichen Entfremdung vorgebeugt.
Die Herausgeberin hat durch eine umfangreiche biografische Einführung, sachkundige Kommentierung und zahlreiche Verweise auf die einschlägige Literatur die Rezeption des Briefwechsels erleichtert. Zugleich hat sie der Versuchung widerstanden, die Korrespondenz selbst auszuwerten. Verdienstvoll sind die beigegebenen Bilddokumente und die Erschließung der Briefe durch ein Personenregister. Die Edition hätte eine bessere drucktechnische Qualität (schwacher Farbkontrast in den Fußnoten!) verdient.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Hellmut Seier: Die Staatsidee Heinrich von Sybels in den Wandlungen der Reichsgründungszeit 1862/71 (Historische Studien, 383), Lübeck 1961.
[2] Vgl. die Auswertung der Korrespondenz bereits bei Volker Dotterweich: Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in politischer Absicht, 1817-1861 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften, 17), München 1978, hier 370 ff.
Volker Dotterweich