Jochen Oltmer: Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 564 S., 12 Abb., 18 Tab., ISBN 978-3-525-36282-2, 49,90
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Vorzustellen ist eines der wichtigsten Bücher, das der Weimar-Forschung in den letzten Jahren zugewachsen ist. Denn die Bevölkerungsgeschichte und vor allem die Wanderungsgeschichte der Zwischenkriegszeit zählen noch immer zu den kaum erforschten Feldern der deutschen Zeithistorie. Für Binnenwanderungen und Auswanderung gilt dies ebenso wie - um es modisch zu formulieren - für "transnationale Zuwanderungen". Angesichts des seit Jahren steigenden Interesses an Zwangsmigration im Kontext "ethnischer Säuberungen" wie an den Problemen der Arbeitsmigration mag dieser Befund überraschen. Doch zum einen fristet die Weimar-Forschung ihr Dasein zumeist unter den langen braunen Schatten eines benachbarten Großforschungsfeldes, zum anderen wird speziell die Untersuchung von Migration und Politik in der Weimarer Republik durch eine schwierige Quellenlage erschwert: Geschlossene Bestände zum Thema gibt es nicht, weil neben dem "Reichswanderungsamt" eine Vielzahl von Stellen für Migrationspolitik zuständig waren. Die verstreuten Archivalien ausgewertet und in anregender Weise analysiert zu haben, ist das Verdienst der am Osnabrücker Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien entstandenen Habilitationsschrift Jochen Oltmers, der im Vorwort dem Migrationspapst Klaus J. Bade "allen voran" seinen Dank abstattet.
Die Untersuchung orientiert sich in ihrem Aufbau - nach einem einleitenden Blick auf Schwerpunkte der Wanderungspolitik, ihre öffentliche Diskussion und ihre "administrativen Akteure" zwischen 1918 und 1933 - an einzelnen Migrationsvorgängen, deren erster Teil als Folgen des Ersten Weltkrieges klassifiziert werden können. Sie reichen von der "Abwanderungsbewegung" aus dem erneut französisch werdenden Elsass-Lothringen und den an Polen fallenden Gebieten Posens und Westpreußens über die (Nicht-)Aufnahme Deutschstämmiger vornehmlich aus Russland, die jüdische Zuwanderung aus dem östlichen Europa und die russischen Bürgerkriegsflüchtlinge bis hin zur Behandlung russischer Kriegsgefangener, die aufgrund der Ereignisse in ihrem Land nicht mehr zurückkehren konnten oder wollten. Im zweiten Teil geht es um die Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte - vor allem aus dem Osten und vor allem in die Landwirtschaft der preußischen Ostprovinzen - und um ihre Regelung durch Verträge mit Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien.
Oltmer kann aufzeigen, wie stark die migrationspolitischen Kontinuitäten vom Kaiserreich in die Weimarer Republik hinein waren. Vor allem die "Abwehrpolitik" Preußens gegen die polnischen Zuwanderer wurde über die Systemzäsur von 1918 hinaus bruchlos weitergeführt. Nach der Erfahrung der Gebietsabtretungen und Abstimmungsschlachten im deutsch-polnischen Grenzbereich schwenkte selbst die Sozialdemokratie, die Preußens Polenpolitik während des Kaiserreiches immer kritisiert hatte, "auf den ethno-national argumentierenden antipolnischen Kurs ein" und zeigte insbesondere als preußische Regierungspartei "eine hohe Konfliktbereitschaft"(485). Eine Polonisierung des verbliebenen deutschen Ostens auf dem Wege einer schleichenden Infiltration slawischer Arbeitskräfte sollte um jeden Preis verhindert werden, sodass Maßnahmen gegen eine dauerhafte Ansiedlung weiterhin im Zentrum zuwanderungspolitischer Maßnahmen standen. Nur in den Anfangsjahren der Weimarer Republik, als nicht absehbar war, ob neue Arbeitskräfte für das von der Inflation gebeutelte Land würden rekrutiert werden können, duldeten die deutschen Behörden Daueraufenthalte polnischer Staatsbürger noch. Im Zuge der "relativen Stabilisierung" Weimars Mitte der 1920er-Jahre nahm das Drängen Berlins auf eine "Resaisonalisierung" der polnischen Arbeitswanderung aber derart massiv zu, dass trotz des diplomatischen Kalten Krieges zwischen beiden Nachbarländern 1927 ein Wanderungsvertrag zu Stande kam. Er setzte vor allem den bis 1914 geltenden "Rückkehrzwang" für polnische Arbeitswanderer in der winterlichen "Karenzzeit" wieder in Kraft.
Parallel dazu unternahm federführend das Reichsarbeitsministerium den Versuch, die Zahl der erwünschten polnischen Arbeitskräfte durch die Anwerbung von Volksdeutschen aus Ostmittel- und Südosteuropa möglichst zu reduzieren. Nach den Verträgen mit jenen Staaten, die über starke deutschsprachige Minderheiten verfügten, durften deren Angehörige aber nicht privilegiert werden, sodass die reichsdeutsche Arbeitsvermittlung "verdeckt operieren" (480) und auch Landarbeiter anderer Nationalitäten rekrutieren musste. Auch ohne die Weltwirtschaftskrise wäre die Anwerbung volksdeutscher Saisonarbeiter trotz gewisser Anfangserfolge in den späten 1920er-Jahren langfristig wohl kaum tragfähig gewesen. Zu sehr stieß sich diese Art der Migrationspolitik mit dem gegen die Versailler Nachkriegsordnung gerichteten, parteienübergreifenden Revisionismus, der an möglichst starken deutschen Minderheiten in Ostmitteleuropa interessiert war. Immer häufiger aber, so hieß es damals in Berichten des Reichsarbeitsministeriums besorgt, würden die "deutschstämmigen" Ausländer ihre arbeitsvertragliche Verpflichtung zur jährlichen Rückkehr in die Anwerbeländer nicht einhalten, was die deutschen Volksgruppen in der Heimat schwächen müsse.
Die hochinformative Darstellung Oltmers vermag auch durch ihre nüchterne und differenzierte Argumentation zu überzeugen, in der sich nur gelegentlich einige problematischere oder zumindest diskutable Passagen finden. So wird in dem einleitenden Teilkapitel über "Transnationale Migration und ethno-nationale Konstruktion" das konstruktivistische Element etwas überstrapaziert. Es entsteht dabei der Eindruck, das "alldeutsche Orientierungsmuster" habe bereits vor 1914 "eine aggressive, auf die Veränderung der bestehenden politischen Grenzen angelegte Dynamik" (42) entfaltet - als ob nicht erst die Pariser Vorortverträge durch ihre weitgehende Ignoranz gegenüber dem eben postulierten Selbstbestimmungsrecht der Völker die Zahl der "Auslandsdeutschen" so vermehrt hätten, dass der völkische Gedanke in der Weimarer Republik epidemisch werden konnte. Fraglich ist auch, ob die "Abwanderung" eines großen Teils der deutschen Bevölkerung aus den an Polen abgetretenen Gebieten tatsächlich "keine Fluchtbewegung oder Vertreibung" (104) war, nur weil die repressive Minderheitenpolitik Warschaus sich erst nach der Stabilisierung Polens Anfang der 1920er-Jahre voll entfaltete, als die "Abwanderung" der Deutschen ihren Höhepunkt schon überschritten hatte. Wenn im Kontext der neuen Ostpolitik bereits in den 1960er-Jahren zu Recht argumentiert worden ist, die polnischen Neusiedler hätten in den (völkerrechtlich noch gar nicht definitiv erworbenen) Oder-Neiße-Gebieten Heimatrecht ersessen, dann wird man dieses Recht den (im Übrigen gar nicht so zahlreichen) Deutschen in Posen und Westpreußen 1918 kaum absprechen können, die bloß infolge der Subventionierung des "Ostmarkendeutschtums" durch die wilhelminische Politik dort lebten - und für die seit Generationen in der Region ansässigen Familien gilt das ohnehin. Ähnliches anzumerken wäre auch - mutatis mutandis - für die bei Oltmer etwas blass bleibende Darstellung der "Ausweisungen, Abschiebungen und Abwanderungen" jener Deutschen aus Elsass-Lothringen (1918/19), die nach 1871 aus dem übrigen Reich dorthin zugewandert waren.
Trotz dieser kritischen Punkte liest man Oltmers Studie insgesamt mit großem Gewinn. Weiterführend sind schließlich auch die resümierenden "Verortungen und Perspektiven", wo der Verfasser seine für die Weimarer Zeit gewonnenen Erkenntnisse im Lichte der Entwicklungen vom späten 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert reflektiert. Die "Harmonisierung" der EU-Flüchtlingspolitik verweist demnach auf "klare Tendenzen einer [...] protektionistischen Migrationspolitik ('Festung Europa')", wie sie auch schon in der Zwischenkriegszeit - nicht nur in der ethno-national orientierten Weimarer Republik (!) - zu beobachten waren. Im Anschluss an bereits vorhandene Pionierstudien zum kaiserlichen Deutschland liegt mit Oltmers Habilitationsschrift nunmehr eine Art Weimar-Handbuch zu den Fragen von Migration und Politik vor.
Manfred Kittel