Roswitha Simons: Dracontius und der Mythos. Christliche Weltsicht und pagane Kultur in der ausgehenden Spätantike (= Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 186), München: K. G. Saur 2005, 430 S., ISBN 978-3-598-77738-7, EUR 98,00
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Innerhalb der letzten 10 Jahre ist ein deutlich gestiegenes Interesse an Dracontius, einem lateinisch dichtenden Autor aus dem von den Vandalen beherrschten Nordafrika des 5. Jahrhunderts n. Chr., zu beobachten. So wurde die Budé-Edition vollendet, Ausgaben und Kommentare zum Hylas und zur Medea erblickten das Licht der Welt. [1] Als weiteres Beispiel für die verstärkte Beschäftigung mit Dracontius kann die vorliegende Arbeit dienen, die 2004 dem Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Universität Hamburg als Dissertation vorlag. Die Verfasserin Roswitha Simons nimmt darin das Verhältnis der paganen und christlichen Dichtung des Dracontius in den Blick. Sie versucht zu zeigen, dass beide Dichtungsarten keineswegs nebeneinander zu denken sind, möglicherweise entstanden zu verschiedenen Lebensphasen, sondern dass "die Weltanschauung des Dracontius, wie sie sich aus den religiösen Werken ergibt, das Verständnis auch seiner Kurzepen mit ihren zahlreichen Neuerungen erleichtern und ermöglichen kann" (18). Es geht Simons letztlich also darum, die Einheit des dracontischen Œuvres aufzuzeigen.
In der Einleitung stellt Simons Leben und Werk des Dichters in knappen Worten vor, bevor sie dann ihren eigenen neuen Ansatz begründet und in die bisherige Forschung einordnet. In den beiden folgenden Kapiteln steht zunächst die christliche Dichtung des Dracontius im Zentrum, wobei sich die Autorin insbesondere auf die Laudes Dei konzentriert, während die Satisfactio von ihr nur ergänzend herangezogen wird. Hier arbeitet sie das Gottes- und das Menschenbild des Dracontius heraus und zeigt, welche Kräfte der Dichter in der Schöpfung am Werke sieht (Kap. II), in welcher Weise die paganen Götter und Kulte von ihm dargestellt werden und welche Funktion ihre jeweiligen Verwendungen im christlichen Kontext haben (Kap. III). Auf der Basis ihrer Ergebnisse interpretiert Simons in den darauf folgenden Kapiteln IV-VI drei ausgewählte Beispiele aus der paganen Dichtung des Dracontius: Medea, De raptu Helenae und Orestis tragoedia. Dabei gilt ihr besonderes Hauptaugenmerk der Gestaltung der mythologischen Erzählungen bzw. ihren Abweichungen von der älteren Tradition. Sie kann, das sei bereits hier vorweggenommen, überzeugend nachweisen, dass zahlreiche Begriffe, Motive, Gedanken, Situationen, Verhaltensweisen, die in den Laudes Dei thematisiert werden, nicht nur in den von ihr ausgewählten paganen Werken vorkommen, sondern deren Gestaltung und Intention sogar maßgeblich mitbestimmen.
Es sei ausdrücklich betont, dass Gedankengang und Methodik jederzeit nachvollziehbar sind, was unter anderem auch daran liegt, dass die Autorin immer wieder zahlreiche Belege für ihren Nachweis anführen kann. Die inhaltlich interpretatorische Darstellung der drei paganen Epen, bei der Simons mitunter ganz neue Lösungsansätze präsentiert, und ihre Konzentration auf die wesentlichen Aspekte der Deutung ist derart luzide, dass man nur anhand der Präsentation sogar selbst noch Parallelen zwischen den paganen und christlichen Werken des Dracontius bemerken kann, die Simons sogar entgangen zu sein scheinen, zumindest nennt sie sie an den betreffenden Stellen nicht: So wird in De raptu Helenae durch die Akzeptanz der ehelichen Verbindung von Hesione und Telamon und der daraus resultierenden friedlichen Abreise der trojanischen Salamis-Gesandtschaft nicht nur das christliche Ideal der Ehe betont (249, 300), sondern die Trojaner haben es somit auch vermieden, per Schiff den Krieg aus ihrer Heimat nach Salamis zu bringen. Hier gilt es zu berücksichtigen, dass in den Laudes Dei die Seefahrt, die Gewalt und Krieg in fremde Länder bringt, noch als scelus bezeichnet wird (vgl. 57). Insofern wird das Verhalten der Gesandtschaft gleich in zweifacher Weise als christlichen Idealen entsprechend dargestellt. Die Frevelhaftigkeit des Raubes der verheirateten Helena durch Paris wird dagegen bereits durch die Sturmszene, die der Landung des Paris in Zypern vorausgeht, angedeutet. Der Sturm findet hier nämlich nicht nur als fester Bestandteil epischer Dichtung Verwendung (263), er kann im christlichen Kontext auch die Häresie oder hier passender unchristliches Verhalten symbolisieren. [2] Zu überlegen bliebe weiterhin, ob in der Orestis tragoedia die Weigerung der Diana, Mitleid mit Iphigenia zu haben und sie aus ihrem Dienst zu entlassen (314), nicht auch zusätzlich noch dem Ziel dient, sie als römische (= pagane) Göttin vom christlichen Gott abzuheben, zu dessen elementaren Kennzeichen nach Dracontius die Güte gehört (vgl. 29). Diese genannten Ergänzungen, die letztlich natürlich nur Detailfragen betreffen, sollen jedoch keineswegs die Arbeit von Simons schmälern. Ja vielmehr unterstreichen sie, dass Ansatz, Methodik und Durchführung als gelungen zu bezeichnen sind.
Ein Literaturverzeichnis, ein Namens-, Sachen- und Stellenindex, der erfreulicherweise nicht nur die Passagen aus den Werken des Dracontius umfasst, runden die Arbeit ab. Gleichwohl seien abschließend noch einige Monita angemerkt. Die Auswahl der drei paganen Epen hätte bereits in der Einleitung näher begründet werden müssen (20 f.). Sie erschließt sich einem jedoch erst bei der Lektüre des ganzen Buches (vgl. 9 f.; 365 f.). Des Weiteren lassen sich zwar grundsätzlich Fehler gerade in umfangreicheren Monografien nie ganz vermeiden, wobei hinzugefügt werden kann, dass in der vorliegenden Arbeit ohnehin nur wenige zu finden sind. Einige wenige Passagen scheinen dafür aber gar nicht Korrektur gelesen worden zu sein, was zum Teil dazu führt, dass sie nicht verständlich sind (238; 363 f.). Außerdem sollte man darauf achten, dass das Vorwort frei von Fehlern ist ("Textverständnises").
Der eigentliche Wert der Arbeit dürfte darin liegen, die ersten Grundlagen für ein tieferes Verständnis der Weltsicht und damit auch der Verfasserintention des Dracontius gelegt zu haben. Nun gilt es, die von Simons herausgearbeiteten Aspekte zu sichten, zu ordnen und vor allem zu fragen, aus welchen Gründen Dracontius z. B. immer wieder auf das Ideal der Ehe zu sprechen kommt, warum er gerade magische Praktiken, Menschenopfer, unangemessene Ambitionen einzelner Personen oder die Seefahrt als menschliche Grenzüberschreitungen ansieht, an wen genau die ständigen Hinweise auf die richtige Machtausübung gerichtet sind. Ausblicke und Vergleiche gerade mit dem zeitgenössischen Mythografen Fulgentius oder den gallisch-katholischen Autoren des 5.-6. Jahrhunderts, die sich ebenfalls auf neue politische Verhältnisse unter barbarisch-arianischen Herrschern einstellen mussten, dürften hier mit Sicherheit interessante Ergebnisse zeitigen.
Anmerkungen:
[1] B. Weber: Der Hylas des Dracontius, Stuttgart u.a. 1995; Dracontius, Œuvres, vol. IV, par É. Wolff, Paris 1996; E. M. Köhler: Philologischer Kommentar zu Dracontius' Romulea 10 (Medea), Diss. Wien 2001; H. Kaufmann: Dracontius: Romul. 10 (Medea), Einleitung, Text. Übersetzung und Kommentar, Heidelberg 2006.
[2] H. Rahner: Symbole der Kirche, Salzburg 1964, S. 257 f., 297 ff.
Oliver Overwien