Barbara Schmid: Schreiben für Status und Herrschaft. Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Zürich: Chronos Verlag 2006, 255 S., ISBN 978-3-0340-0765-8, EUR 32,00
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Seit den 1980er Jahren wird die Erforschung spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Ego-Dokumente und Selbstzeugnisse vornehmlich von historischer Seite betrieben. Umso erfreulicher ist, dass nach den Arbeiten von Eva Kormann, Helga Meise und Hans Rudolf Velten nun in Gestalt des Buches von Barbara Schmid eine Studie vorliegt, die das Feld der Quellentypen literaturwissenschaftlich zu gliedern unternimmt. Sie geht auf eine 1998 fertiggestellte, germanistische Dissertation bei Alois M. Haas an der Universität Zürich zurück, die auch Impulse durch Jan-Dirk Müller erfahren hat.
Der Leitgedanke der Verfasserin ist, verschiedene Texttypen, die das Merkmal des Selbstbezugs der auktorialen Person eint, methodisch analog zu untersuchen, so dass die jeweilige Spezifik des autoreferentiellen Schreibens hervortritt. Begrifflich subsumiert Schmid die Texte unter "Autobiographik" als einer "Gattung", die eine Reihe von "autobiographischen Gattungen" umschließt (13-14). Untersucht werden die autobiographischen Schriften ratsfähiger städtischer Geschlechter sowie von Regenten und Personen in deren Umfeld als "die beiden hauptsächlichen Überlieferungsstränge im deutschen Sprachraum des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit" (13). Schmid fragt nach den "historischen Ausprägungen der Gattungen" und "der Verwirklichung spezifischer Handlungsstrategien" (20). Mit auch "sozialgeschichtlichem Erkenntnisinteresse" (15) stellt sie "Studien zu den sozialen Gruppen" und darin den "Formen und Funktionen der Memoria" an (22).
Die bisherige Forschung unterteilt Schmid in Ansätze, die die Entwicklung des Individualitätsbewusstseins in Europa und die der Gattung parallelisieren (seit Georg Misch); solche, die die frühe Autobiographik auf "standesgebundene Gebrauchsprosa" (25) rückbeziehen (auch seit Misch), und solche, die autobiographisches Erzählen als Formen sozialen oder sprachlichen Handelns über eigene Erfahrungen bestimmen (seit Peter Sloterdijk). Als Defizite vermerkt Schmid die fehlende Berücksichtigung autobiographischer Schriften vor 1700, den Mangel an Aufmerksamkeit gegenüber literarischen Schreibtraditionen sowie die zu geringe Aufarbeitung historischer Kommunikationsvorgänge (der Verfasserin lag Gabriele Janckes Buch 'Autobiographie als soziale Praxis' [2002] ursprünglich nicht vor; auch sind einige jüngere Sammelbände oder Pierre Monnets Beiträge wenig, sowie die Arbeiten Kormanns gar nicht berücksichtigt). Als methodisches Erfordernis erschließt sich Schmid die Frage nach dem Rezipienten bei Verzicht auf normative Gattungsmuster.
Die Analyse beruht auf einer exemplarischen Auswahl meist deutschsprachiger Zeugnisse des 14. bis 17. Jahrhunderts aus einer Datenbank von rund 670 Titeln (23). Innerhalb der für die "städtische Autobiographik" als repräsentativ angesehenen, handschriftlichen Überlieferung in Nürnberg und Augsburg (24) hebt Schmid die drei "Schreibformen" Geschlechterbuch, Schreibkalender und Hausbuch (59-60) anhand zahlreicher Beispiele in lebensgeschichtlichen Kontextualisierungen hervor. [1] Dabei treten familiäre, freundschaftliche, geschäftliche Verflechtungen und damit verbundene textuelle Bezüge plastisch hervor. Schmids Hinweise auf die seit Ende des 15. Jahrhunderts verbreitete Nutzung von gedruckten Schreibkalendern sind von besonderem Interesse, da diese unverhältnismäßig selten erhalten sind.
Die in einem Familienarchiv bewahrten Bestände der Nürnberger Familie Behaim eröffnen den Blick auf die Anteile von Frauen an autobiographischen Schriften. Den Gang der Analyse bestimmen jetzt Personen, deren Aufzeichnungen in Anlehnung an kodikologische Verfahren vom Äußeren zum Inhalt fortschreitend erschlossen werden. Allerdings ist nicht immer eindeutig erkennbar, ob Eigenhändigkeit vorliegt. Die Texte finden sich zum größeren Teil (ohne Querverweise) in Anhängen abgedruckt.
Im zweiten Teil des Buches beschäftigt sich Schmid mit der Autobiographik der Könige und Kaiser Karl IV., Friedrich III. und Maximilian I. sowie Schriften von Amtsträgern und Gesandten im Umfeld Friedrichs III. Das Œuvre des Aeneas Silvius Piccolomini vor seiner Wahl zum Papst erscheint daher hier, während seine als Pius II. verfassten 'Commentarii' eigens untersucht werden. Auch Helene Kottanners fragmentarisch erhaltene Darstellung der ungarischen Krönung des Ladislaus Postumus ist einbezogen. Als Analysekategorien fungieren Überlieferung, erste Anlage, Inhalt und Form, Gattungsbezüge, Adressaten und Intentionen, Repräsentation oder rhetorisch-stilistische Ausführung. Die Anwendung der Kategorien auf die fragmentarischen, lateinischen Diktate Maximilians I. sowie den 'Weisskunig' und den 'Teuerdank' fördert ein dichtes Geflecht von Intentionen, Bezügen und motivisch-thematischen Analogien zu Tage. Wiederholt erweist sich Burgund als literarischer und realer Referenzraum.
Schmids Schlussfolgerungen akzentuieren die "frühe Autobiographik" seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts "als Mittel gesellschaftlicher Auszeichnung und herrschaftsbezogener Selbstbehauptung" (183), als schriftliche, "den Erfolg von Geschlecht und Dynastie garantierende Auseinandersetzung mit Status und Herrschaft", bei der nicht das "Ringen um Selbsterkenntnis" Thema gewesen sei (185). Wie die stadtbürgerlichen Aufzeichnungen die zusammenhängende Tradition einer sozial distinkten Gruppe bildeten, so seien die Schriften im Umfeld der Fürstenhöfe von Verwandtschafts- oder Dienstverhältnissen zum Haus Habsburg charakterisiert. Die Autobiographik städtischer Geschlechter, zeitgenössisch als Bemühen um Erinnerung verstanden und vornehmlich handschriftlich überliefert, sei rhetorisch-stilistisch meist schlicht gehalten. Werke im Umfeld deutscher Fürstenhöfe, die "eine eigenständige autobiographische Tradition" (184, auch 117) bildeten, seien umfangreicher, rhetorisch-stilistisch aufwändiger und oft künstlerisch gestaltet, zumal sie meist auf ein größeres, teils anonymes Publikum zielten. Ihre Verfasser und eine Verfasserin gehörten unterschiedlichen sozialen Gruppen an. Als Zwecke benennt Schmid herrschaftslegitimierende und -sichernde Funktionen durch die Fixierung "autorisierte[r] Erinnerung" (184) aus höchstrangiger Augenzeugenschaft und Autorschaft.
Trotz ihrer materialgesättigten Argumentation gerät Schmid hier in Gefahr, ihre eigenen, Differenz und Varianz genau erfassenden Beobachtungen etwas zu nivellieren. So wie sie selbst auf die Nähe der Merkbücher Friedrichs III. zu stadtbürgerlichen Aufzeichnungen und den andersartigen Fundus der Vorbilder Piccolominis hinweist (184), drängt sich der Verdacht auf, dass vielleicht weniger eine sozialräumliche oder lebensweltliche Achse das autobiographische Feld in ihrem Sinn erschließt, als eine zeitliche literarischer Zeitgenossenschaft im Blick auf Schreibtypen. Der Repräsentationsanspruch eines Geschlechterbuches mag nicht geringer gewesen sein als der eines der von Maximilian I. in Auftrag gegebenen Werke. Karls IV. Impetus, für die Nachfahren zu schreiben, dürfte sich kaum qualitativ infolge des "gesellschaftlichen Umfeld[s]" (185) von dem eines patrizischen Familienvaters unterschieden haben. Der zweite der beiden postulierten autobiographischen Traditionsstränge wirkt daher nicht ganz so überzeugend wie der erste. Schmids detaillierte Analysen könnten auch nahe legen, zunächst Grade intendierter Reichweite, etwa von persönlichen, beispielsweise kalendarischen Notizen bis zu veröffentlichten Schriften, zu unterscheiden.
Dennoch ist es ein Verdienst der Studie Schmids, bisher getrennt verhandelte Texttypen, Schriften und Kommunikationsbereiche jenseits konventioneller Epochengrenzen zueinander geordnet und durchgängig anwendbare Methoden ihrer interpretatorischen Erschließung aufgewiesen zu haben. Unter ihnen sticht die stets konsequent durchgeführte Kontextualisierung auf mehreren Ebenen hervor. Verschiedenenorts weitet Schmid den Blick auf europäische literarisch-textuelle Beziehungen aus. Insbesondere aber bietet sie der interdisziplinären Forschung ein breites, höchst detailliertes Spektrum selbstbezüglicher Quellen, deren Fülle im Buch zu erkunden nachdrücklich empfohlen sei.
Anmerkung:
[1] Vgl. Barbara Schmid: Das Hausbuch als literarische Gattung. Die Aufzeichnungen Johann Heinrich Wasers (1600-1669) und die Zürcher Hausbuchüberlieferung, in: Daphnis 34 (2005), 603-656.
Sabine Schmolinsky