Stefan Botor: Das Berliner Sühneverfahren. Die letzte Phase der Entnazifizierung (= Rechtshistorische Reihe; Bd. 327), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 259 S., ISBN 978-3-631-54574-4, EUR 45,50
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Mit einem selbst Spezialisten kaum bekannten Sonderfall der Entnazifizierung befasst sich die rechtshistorische Dissertation von Stefan Botor. Sie untersucht das Berliner Sühneverfahren, das sich als objektbezogenes Verfahren primär gegen das Vermögen schwerbelasteter Nationalsozialisten richtete. Die Studie besteht im Grunde aus zwei Teilen: Einem sehr breit geratenen Überblick über die Geschichte der Entnazifizierung - von der Atlantik-Charta 1941 über das Prozedere in den drei westlichen Besatzungszonen bis zur Abschlussgesetzgebung auf Länderebene in den frühen Fünfzigerjahren. Im Mittelpunkt stehen hierbei die unterschiedlichen gesetzlichen Grundlagen und formalen Verfahrensabläufe, was für eine rechtshistorische Arbeit nahe liegend ist. Die Darstellung erschöpft sich jedoch in der (durchaus nützlichen) Auflistung der einschlägigen Bestimmungen, vermittelt aber dem Leser, der an einer problemorientierten Darstellung und den tatsächlichen Ergebnissen interessiert ist, keine neuen Erkenntnisse. Auch lässt die summarisch gehaltene Bewertung der unterschiedlichen Entnazifizierungsverfahren und die als Beleg herangezogene Sekundärliteratur eine merkliche Unsicherheit bei der Einordnung in den zeithistorischen Forschungsstand erkennen. Mehr als fragwürdig ist etwa die Bewertung, lediglich die französische Militärregierung habe eine Säuberungspraxis entwickelt, "die im Nachhinein vielleicht als einzige die Bewertung einer politischen Säuberung verdiente" (67). Wenig Kenntnis vom tatsächlichen Ablauf verrät auch die Klage, dass in der amerikanischen Zone das Einspruchsrecht der Militärregierung einheitliche Entscheidungen der deutschen Spruchkammern verhindert habe. Schlicht falsch ist die Kritik an der Nichtöffentlichkeit der Verfahren, denn die Verhandlungen vor der Spruchkammer zeichneten sich gerade durch ihren öffentlichen Charakter aus (56).
Schwerer wiegt aber, dass dieser erste Teil, der fast die Hälfte der gesamten Darstellung ausfüllt, nur in einem sehr losen Bezug zum Berliner Sühneverfahren steht, dessen Anfänge auf eine Anordnung der Alliierten Kommandantur von Februar 1949 zurückgehen. Kennzeichnend für das Entnazifizierungsverfahren in Berlin war die generelle Entlassung aller "aktiven" Nationalsozialisten aus leitenden Stellungen in Verwaltung und Wirtschaft, die die Alliierte Kommandantur im Februar 1946 für alle Sektoren der Stadt verordnet hatte. Gegen diese Maßnahme war die Berufung vor deutschen Entnazifizierungskommissionen möglich, die in jedem Verwaltungsbezirk bestanden und ihrerseits dem Alliierten Komitee für Entnazifizierung unterstellt waren. Anders als etwa die Spruchkammern in der amerikanischen Besatzungszone nahmen diese Kommissionen von sich aus keine Überprüfung und Einstufung aller Belasteten vor, sondern wurden nur auf Antrag eines Betroffenen tätig, d. h. eines bereits Entlassenen bzw. einer Person, der aufgrund ihrer politischen Belastung die Neu- oder Wiederanstellung verweigert worden war. Die Berliner Entnazifizierungskommissionen verhängten keine weiteren Sanktionen, sondern entschieden lediglich die Frage, ob es sich bei dem Betroffenen um einen aktiven oder nur nominellen Nationalsozialisten gehandelt habe. Folgt man Botor, so lehnten die Kommissionen im Westteil der Stadt lediglich in zwei Prozent aller Fälle die beantragte Rehabilitierung ab. Über die Durchführung im sowjetisch besetzten Teil Berlins finden sich in der Studie keinerlei Angaben, obwohl dies zum Vergleich sicherlich aufschlussreich gewesen wäre, galten doch die gleichen Rechtsgrundlagen.
Als nun im Februar 1949 auch in Berlin die Entnazifizierung einem beschleunigten Ende zugeführt werden sollte, stellte sich das Problem, dass im Westteil der Stadt noch ca. 40.000 Rehabilitierungsanträge unerledigt waren. Über die noch offenen Verfahren sollten nunmehr so genannte Spruchausschüsse entscheiden, die erstmals auch abgestufte Sühnemaßnahmen gegen aktive Nationalsozialisten verhängen konnten. Sie entsprachen im Wesentlichen dem Sanktionskatalog der Spruchkammern und reichten von der befristeten Entziehung der bürgerlichen Rechte über Geldstrafen bis zur Aberkennung von Pensions- und Rentenansprüchen. Die Masse der Verfahren war bis Sommer 1951 erledigt, wobei Geldstrafen und Sühnefristen von drei Jahren nur in rund 2.000 Fällen verhängt wurden. Zu diesem Zeitpunkt, als das Berliner Abgeordnetenhaus das Gesetz zum Abschluss der Entnazifierung beschloss und die Spruchausschüsse auflöste, zählte die Statistik allerdings immer noch 8.000 unerledigte Verfahren.
Für diese Fälle war die neu gegründete Spruchkammer beim Senat von Berlin zuständig, wobei sich die Verfahren ausschließlich gegen Personen richten sollten, die sich "aktiv im Sinne des Nationalsozialismus betätigt" hatten, was in der Terminologie des Befreiungsgesetzes der Einstufung in die Gruppe der Hauptschuldigen (I) und NS-Aktivisten (II) entsprach. Bis Juni 1955 waren jedoch lediglich 956 Verfahren abgeschlossen und zahlreiche Verfahren gegen prominente Nationalsozialisten noch nicht einmal eröffnet worden. Insbesondere das Bekanntwerden umfangreicher Vermögenswerte von führenden NS-Funktionären setzte den Senat unter Druck, sodass mit der Verabschiedung des Zweiten Abschlussgesetzes im Dezember 1955 eine Bestimmung eingeführt wurde, die weitere Verfahren ermöglichte.
Die Sühneverfahren richteten sich nunmehr ausschließlich gegen Hauptschuldige und zielten vor allem auf den Einzug ihres Vermögens ab. So musste beispielsweise die Witwe Hermann Görings aus dem Vermögensnachlass eine Geldsühne von 756.000 DM leisten, im Verfahren gegen Joseph Goebbels wurden die Berliner Vermögenswerte mit einer Sühne von 110.000 DM belegt, bei Heinrich Himmler betrug sie hingegen nur 1.220 DM. Diese und andere Fälle, die von Botor nachgezeichnet werden, geben einen Einblick in den Verfahrensablauf und am Rande auch in die Korruption des NS-Regimes. Auf der Grundlage des Zweiten Abschlussgesetzes wurden bis 1960 63 Verfahren rechtskräftig abgeschlossen und Geldstrafen in Höhe von insgesamt 1,32 Millionen DM ausgesprochen. Nach 1960 kam es nur noch vereinzelt zu Verfahren, zuletzt im Jahre 1979. Die gesetzlichen Grundlagen, Verordnungen und Anordnungen zur Durchführung des Berliner Sühneverfahrens sind im Anhang abgedruckt und somit für den Leser leicht greifbar. Wenngleich die rechtshistorische Studie Botors aus zeitgeschichtlicher Perspektive viele Fragen nach dem tatsächlichen Ablauf der Entnazifizierung in Berlin offen lässt und selbst statistische Übersichten weitgehend fehlen, so macht sie doch auf einen bislang kaum bekannten Sonderfall aufmerksam, der weitergehende Forschungen anstoßen sollte.
Clemens Vollnhals