Günter Buchstab (Bearb.): Kiesinger: "Wir leben in einer veränderten Welt". Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1965 - 1969 (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 50), Düsseldorf: Droste 2005, XL + 1570 S., ISBN 978-3-7700-1899-4, EUR 78,00
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Ludwig Erhards Sieg bei der Bundestagswahl 1965 konnte die schwelende Krise der CDU nicht lange unterdrücken. Schon einen Tag nach der Wahl mischten sich im Vorstand kritische Stimmen in den allgemeinen Jubel, waren doch die Blicke bereits fest auf die im nächsten Jahr anstehende Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, aber auch schon auf die nächste Bundestagswahl gerichtet. Angemahnt wurde eine kritische Überprüfung von Sach- und Personalfragen, ein größerer Einfluss des Vorstands, aber auch eine Verjüngung der neu zu bildenden Bundesregierung.
In den folgenden Monaten kam es sehr rasch zu einer krisenartigen Zuspitzung der innen-, außen- und innerparteilichen Situation, die zum Sturz Erhards und zur Bildung der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger führte. Hierfür macht Günter Buchstab in seiner instruktiven Einleitung Erhards Entscheidungsschwäche und dessen mangelnde Fähigkeit verantwortlich, der Partei die erhoffte und erforderliche Neuorientierung zu geben. Erhard sei es nicht gelungen, die verschiedenen innerparteilichen Interessengruppen auszubalancieren und zu integrieren und die strukturellen Defizite der Partei zu überwinden. So konstatierte der rheinland-pfälzische Fraktionsvorsitzende Helmut Kohl bereits am 6. Mai 1966 eine "chronische Unlust" in der Partei (194). Nach dem für die CDU enttäuschenden Wahlausgang bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kam deutliche Kritik an der Führungslosigkeit der Partei und den öffentlichen Streitereien über den außenpolitischen Kurs auf, bevor schließlich die krisenhafte wirtschaftliche Entwicklung endgültig Erhards politisches Ende einleitete.
Die Bildung der Großen Koalition war innerhalb des CDU-Vorstands höchst umstritten, erwies sich jedoch letztlich wegen der Haltung der FDP-Führung und wegen der Angst vor einer Einigung der beiden anderen Parteien über die CDU hinweg als unumgänglich. Kanzlerkandidat Kiesinger zeigte sich optimistisch, mit den Sozialdemokraten wichtige Reformen einleiten zu können. Vor allem kam es ihm darauf an, einen der "Grundfehler der deutschen Demokratie seit 1919" (381), das Verhältniswahlrecht, durch die Einführung des Mehrheitswahlrechts zu korrigieren. Dies gab für viele Vorstandsmitglieder schließlich den Ausschlag für die Zustimmung.
Nachdem die außenpolitische Lage zunächst wieder in ruhigeres Fahrwasser geriet und die innerparteilichen Debatten abebbten, konnte sich der Parteivorstand nun verstärkt der organisatorischen Erneuerung der CDU widmen. So galt es zunächst, die - so Bruno Heck - "katastrophale" Finanzlage (459) der Partei zu verbessern. Über die Höhe der Mitgliedsbeiträge und die Verteilung zwischen Bundespartei und Landesverbänden wurde dementsprechend heftig gefeilscht. Nicht minder umstritten war die wichtigste organisatorische Neuerung, die Schaffung des Postens eines Generalsekretärs, des - wie Rainer Barzel es zutreffend formulierte - "Mister CDU" (515).
Aufschlussreich sind Kiesingers außenpolitische Lageeinschätzungen und die Stimmungsbilder aus dem Kabinett. Während er Wehner etwa in der Deutschlandpolitik als zuverlässig einstufte, sah er in Brandt einen gewissermaßen von der "Anerkennungspartei" Getriebenen, der stets "ein bisschen wolkig" sei (973). Genervt zeigte er sich von der "schwierigsten Persönlichkeit" (707) aufseiten der SPD, dem Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt, der immer wieder Sand ins Getriebe werfe, um sich zu profilieren.
Bereits zu Beginn des Jahres 1968 gab sich Kiesinger gegenüber dem Parteivorstand skeptisch, ob die angestrebte Wahlrechtsreform noch durchzusetzen sei, zumal sich eine Annäherung der beiden anderen Parteien erkennen ließ. Nach dem deutlichen Erfolg der NPD bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im Frühjahr 1968 diskutierte der CDU-Vorstand die Frage eines Verbots der NPD, wobei dies mehrheitlich für politisch nicht ratsam und juristisch schwer durchsetzbar angesehen wurde. Auch die Studentenunruhen wurden zunehmend Gegenstand der Vorstandsdebatten, wobei sich die Partei ratlos zeigte, wie ihnen zu begegnen sei.
Nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings im Sommer 1968 rückte die Außenpolitik wieder ins Zentrum des Interesses. Gegenüber dem Parteivorstand betonte Kiesinger den Willen zur Fortsetzung der bisherigen Politik unter der Voraussetzung einer Stärkung des atlantischen Bündnisses und der europäischen Einigung. Unverhohlen gab er dabei seiner Hoffnung auf einen Wahlsieg der Republikaner bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl Ausdruck, von denen er sich mehr Realismus und eine Korrektur der Politik gegenüber der UdSSR versprach, die gegenüber der Bundesrepublik nun mit den Feindstaatenklauseln der UNO-Charta drohte. Befriedigt zeigte er sich darüber, dass die Bundesrepublik zumindest in der so umstrittenen Debatte des Nichtverbreitungsvertrags durch die Prager Ereignisse "Luft bekommen" habe (1079).
Neben diesen außenpolitischen Fragen galt es jedoch auch, die im kommenden Jahr anstehenden Wahlen vorzubereiten. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg war das "Berliner Programm", das nach intensiver innerparteilicher Debatte verabschiedet wurde.
Dass sich eine neue politische Konstellation abzeichnete, machte die Bundespräsidentenwahl im Frühjahr 1969 deutlich, in der sich der Kandidat der SPD, Gustav Heinemann, durchsetzte. Kiesinger hoffte jedoch, dass darin gewissermaßen auch ein Weckruf für das bürgerliche Lager gesehen werden könnte. Nicht zuletzt das Gespenst einer möglichen sozialliberalen Ost- und Deutschlandpolitik bis hin zur Anerkennung der DDR mochte viele Wähler den Unionsparteien zuführen. Helmut Kohl sah in der Wahl Heinemanns eine "späte Abschlagszahlung" (1344) auf das Ende der Pläne zur Wahlrechtsänderung und warf den Sozialdemokraten vor, die Unionsparteien von Beginn der Großen Koalition an in dieser Frage vorsätzlich hinters Licht geführt zu haben. Überhaupt belegen die vorliegenden Protokolle des CDU-Vorstands sehr deutlich den parteiinternen Aufstieg Kohls. Selten nahm er in den Debatten ein Blatt vor den Mund und ergriff häufig die Initiative, sei es bei der Kür des Kanzlerkandidaten im Herbst 1966 oder bei Fragen von Organisation, Parteifinanzen oder Programmatik.
Insgesamt zeichnen die Protokolle des CDU-Vorstands ein breites Panorama der ausgehenden 1960er-Jahre. Zum Aufbau der Edition müssen jedoch auch einige kritische Bemerkungen gemacht werden. Zu loben sind die nützlichen Kurzregesten, die mitgelieferten Anwesenheitslisten und die Sprecherlisten zu Beginn jeder Sitzung. Auch die beiden Register erleichtern die Benutzung des voluminösen Bandes erheblich. Die Kommentierung allerdings ist stellenweise recht dürftig bis sachlich falsch geraten und setzt teilweise die falschen Prioritäten. Sehr viel Energie und Platz wird auf Kurzbiografien sämtlicher Personen verwendet, die in dieser Ausführlichkeit - wenn überhaupt - im Personenregister besser aufgehoben wären und die sich leicht über einschlägige Nachschlagewerke ermitteln lassen. Mit inhaltlichen Fragen wird insbesondere der weniger erfahrene studentische Leser jedoch gelegentlich allein gelassen. So erhält er zwar ausführliche biografische Informationen zu Bundesbankpräsident Otmar Emminger (1315), wird jedoch zum so bedeutsamen Thema Aufwertungsstreit mit einem kurzen Satz abgespeist. Wenigstens ein Hinweis auf weiterführende Literatur wäre hier wünschenswert gewesen. Ähnlich verhält es sich mit Kiesingers Äußerungen zu Kritik innerhalb der Großen Koalition an seiner Europapolitik. Die biografischen Angaben zum angesprochenen SPD-Politiker Karl Mommer (1331) sind sicher nützlich. Ob allerdings hier Pläne Mommers aus dem Jahr 1954 zur Saarfrage gemeint waren, wie in der Anmerkung ausgewiesen, darf bezweifelt werden. Ebenso zweifelhaft erscheint die Erläuterung der Bearbeiter zum französischen Austritt aus der militärischen Integration der NATO (157). In der Debatte hierüber ging es wohl kaum um die Washingtoner Konferenz von 1949 oder die Bildung der Trizone, sondern wohl eher um Buchstaben und Geist des NATO-Vertrags. Einige ins Leere führende Querverweise weisen zudem darauf hin, dass eine gründlichere Endredaktion angeraten gewesen wäre.
Die hier aufgeführten Kritikpunkte schmälern jedoch keinesfalls die Bedeutung der vorliegenden Edition, die einen sehr verdienstvollen und wichtigen Beitrag zur Geschichte der Bundesrepublik und der CDU auf dem Weg in die 1970er-Jahre darstellt.
Daniela Taschler