Heinrich Rüthing (Hg.): Die Chronik Bruder Göbels. Aufzeichnungen eines Laienbruders aus dem Kloster Böddeken 1502 bis 1543 (= Quellen und Forschungen zur Kirchen- und Religionsgeschichte; Bd. 7), Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2005, 544 S., 7 Abb., 1 Karte, ISBN 978-3-89534-567-8, EUR 49,00
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Die zeitgenössische westfälische Geschichtsschreibung der Reformationszeit zählt lediglich ein knappes Dutzend Arbeiten. Klösterliche Chroniken treten hier gegenüber bürgerlichen Aufzeichnungen völlig in den Hintergrund. Schon deshalb nimmt die Chronik des Laienbruders Göbel Schickenberges aus dem Augustinerchorherrenstift Böddeken in der westfälischen Chronistik eine Sonderstellung ein. Immer wieder verlässt sie den eigenen Lebensbereich und übertrifft die anderen der in Westfalen in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandenen Werke zur "Zeitgeschichte" an Umfang und Facettenreichtum. Nach verschiedenen Editionsversuchen seit dem 19. Jahrhundert (siehe auch 30-34) legt nun Heinrich Rüthing den vollständigen Text der Chronik in einer ausgezeichneten Edition vor.
In der Einleitung (9-50) skizziert Rüthing zunächst die Biografie des Laienbruders Göbel sowie die genauen Entstehungsumstände seiner Chronik und stellt weitere Werke des Laienbruders vor. Da er all dies aufgrund seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit seinem Protagonisten bereits an anderer Stelle behandelt hat, ist die Kürze dieser Ausführungen angemessen.
"Gobbel Schickenberges van Colne", über dessen Jugend fast nichts bekannt ist ("Gobelinus [...] de Colonia natus et in Hassia nutritus"), trat 1501 als Laienbruder in Böddeken ein. Das Augustinerchorherrenstift im Paderborner Land gehörte an der Wende zur Neuzeit zu den größten und bedeutendsten Klöstern im Reich; die wirtschaftliche Blüte machte Böddeken zu einem Zentrum der Windesheimer Kongregation, der das Kloster seit 1430 angehörte. Der Konvent wies eine ungewöhnliche Personalstruktur auf: Im Jahre 1522 zählte er 39 Chorherren und 156 Laienbrüder; letztere arbeiteten für gewöhnlich im Wirtschaftsbetrieb des Klosters. So auch Göbel, der bereits ein Jahr nach seinem Ordenseintritt das Amt des Vogts erhielt, das er bis zu seinem Tod am 3. September 1543 ausübte. Fortan war es seine Aufgabe, die dem Konvent zustehenden Natural- und Kapitaleinkünfte einzuziehen. Daher musste er häufig das Kloster verlassen: Seine Reisen führten ihn nicht nur in die gesamte nähere Region, sondern unter anderem nach Braunschweig, Lübeck, Göttingen, Deventer, Köln, zweimal sogar bis nach Rom. Göbels Aufzeichnungen, die ursprünglich ein reines Einnahmeregister waren, das der Laienbruder um chronikalische Angaben ergänzte, bezogen sich nicht nur auf seine Tätigkeiten als Vogt, sondern gingen weit über den Kontext der Wirtschaftsführung des Klosters hinaus und wuchsen bis zu seinem Tod auf ein vielhundertseitiges Werk an. Register und Chronik nahmen im Laufe der Zeit beträchtlich an Inhalt und Umfang zu, denn Göbel entwickelte sich vom Buchhalter zum Chronisten. Fasst der Laienbruder bis etwa 1518 länger zurückliegende Ereignisse zusammen, so schreibt er im Folgenden in Form eines Tagebuchs zwar in unregelmäßigen Abständen, dafür aber offenbar zeitnah seine Erlebnisse nieder. Leider ist der 3. Chronikband der Jahre 1533 bis 1540 verloren gegangen (26-30, 404 f.).
Neben der "Chronik" sind weitere Aufzeichnungen des Laienbruders bekannt, vereinzelt auch überliefert (22-26): die "Acta Colonie et Rome", in denen Göbel die Verhandlungen Böddekens mit den adligen Herren von Büren und von Brenken in Köln und Rom festgehalten hat und die als verloren gelten, das so genannte "Kleine Rechnungsbuch", das selbst in seiner bruchstückhaft überlieferten Form noch gute Einblicke in die Alltagsarbeit des Vogts bietet, und ein kurzes "Ablassbuch", offenbar ein Ergebnis der Romreisen Göbels. Meines Wissens handelt es sich dabei um das einzige Werk religiöser Unterweisung innerhalb der Windesheimer Kongregation, das ein Laienbruder für seine illiteraten Mitbrüder verfasst hat.
Die drei Chronik-Handschriften beschreibt Rüthing ausführlich und begründet die Editionsgrundsätze sehr textnah und eingehend. Historiker, die sich mit der Edition niederdeutscher (chronikalischer) Texte der Frühen Neuzeit befassen, sollten dankbar auf diese Überlegungen und Prinzipien zurückgreifen. Die Edition ist dem Grundsatz verpflichtet, dem Historiker einen lesbaren und verlässlichen Text an die Hand zu geben. Allerdings werden zahlreiche - aus heutiger Sicht - Wort- und Grammatikfehler in der Regel unkommentiert in die Edition übernommen; Normalisierungen werden äußerst zurückhaltend vorgenommen. All dies erschwert dem heutigen Leser zwar die Lektüre, die fehlenden Eingriffe erscheinen aber gerechtfertigt, da so die Individualität Göbels und seiner Chronik berücksichtigt wird. Einige Faksimileseiten aus den verschiedenen Codices zeigen, dass Göbel "die Inhalte wichtiger waren als die äußere Form" (45), und verdeutlichen neben der Arbeitsweise des Chronisten die Schwierigkeiten des Editors.
Angesichts des Umfangs von Einnahmeregister und Chronik ist eine Auswahl an Texten für die Edition unvermeidlich. Rüthing entscheidet sich für einen angemessenen und begründbaren Kompromiss: Bis zum Jahr 1521 wird das Register den chronikalischen Aufzeichnungen vorangestellt. Damit wird die eigentliche Arbeit Göbels in der Edition ausführlich gewürdigt. Aufgrund des zunehmenden Umfangs der Chronik ab dem Jahr 1522 tritt das Register nun zugunsten der eigentlichen Chronik in den Hintergrund. Die Edition ist mit einem zurückhaltenden textkritischen und einem ausführlichen und hilfreichen, allerdings nicht interpretierenden Sachkommentar ausgestattet, der Erläuterungen zu Personen, Orten und Ereignissen bietet. Ein Itinerar des Laienbruders für die Jahre 1515 bis 1517 bildet einen Teil der Aufenthalte und Reisen Göbels ab, die konstitutiv für seine Geschichtsschreibung waren. Ein nützliches Glossar erleichtert dem Leser die Lektüre der Chronik. Das Quellen- und Literaturverzeichnis bietet die Gelegenheit, Einzelaspekte der Chronik zu vertiefen. Das Personen- und Ortsregister, das Verzeichnis der Böddeker Prioren, Subprioren und Prokuratoren für den Zeitraum der Chronik sowie insbesondere das Themen- und Sachregister, das die komplexen und vielfältigen Inhalte der Chronik aufschlüsselt und dem Leser eine schnelle Orientierung ermöglicht, sowie eine Karte häufig genannter Orte der Chronik vereinfachen die Arbeit mit der Edition.
Die Vielfalt der von Göbel beschriebenen Ereignisse ist groß. Es finden sich Begebenheiten aus der bäuerlichen Welt, von Bränden in Rüthen und Elsen, umfangreiche Nachrichten zu Unwettern, Missernten, Seuchen und Hungersnöten, zu Ochsen und Schafen in Böddeken, zu der Besetzung westfälischer Bischofsstühle und zu militärischen Aktionen vor Rhodos und Reval. Er beschreibt die wichtigsten Ereignisse im Reich und in Europa und begreift seine Gegenwart, die durch die religiösen Neuerungen und die kriegerischen Auseinandersetzungen der Bauernkriege geprägt ist, als eine Epoche stürmischer Veränderungen, in der die hergebrachte Ordnung zerbricht und sich vertraute religiöse Formen auflösen. Neben der Sorge um die Sicherheit seines Klosters gilt sein Hauptaugenmerk dem Fortgang der Reformation. Er beschreibt voller Sorge die Auflösung der Klöster, die Einführung der deutschen Messe, die Bilderstürme und die Verspottung der Heiligen. Die Chronik ist Ausdruck einer offenbar allgemein wahrgenommenen Krise, die sich für Göbel allerorts ausfindig machen lässt. Seine Berichte von den innerstädtischen Unruhen in Soest, Lippstadt, Hildesheim und Lemgo sind nicht nur äußerst dicht, sie lassen auch Rückschlüsse auf stadt- und landesgeschichtliche Entwicklungen aus klösterlicher Sicht zu.
Göbels Aufzeichnungen zur Wirtschaftsführung des Klosters und der Abgaben der abhängigen Kolonate geben einen Einblick in die Praxis der frühneuzeitlichen Grundherrschaft bzw. der klösterlichen Agrarorganisation sowie in das komplexe Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Kloster Böddeken und seinen Abgabepflichtigen.
Die Lektüre der Chronik Bruder Göbels nimmt den Leser mit auf eine farbige Entdeckungsreise durch die alltägliche Welt der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus der Perspektive eines Laien, der einerseits fest verwurzelt war im monastischen Kosmos, andererseits aber durch seine zahllosen "Dienstreisen" über eine weit größere "Weltkenntnis" als andere zeitgenössische Chronisten verfügte. Heinrich Rüthing gebührt großer Dank, die Chronik so hervorragend ediert und kommentiert und sie damit für die Forschung und für historisch Interessierte aufbereitet und zugänglich gemacht zu haben.
Thomas Brakmann