Cornel Zwierlein: Discorso et Lex Dei. Die Entstehung neuer Denkrahmen im 16. Jahrhundert und die Wahrnehmung der französischen Religionskriege in Italien und Deutschland (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; Bd. 74), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 900 S., ISBN 978-3-525-36067-5, EUR 129,00
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Cornel Zwierlein: The Political Thought of the French League and Rome 1585-1589. De justa populi gallici ab Henrico tertio defectione and De justa Henrici tertii abdicatione (Jean Boucher, 1589), Genève: Droz 2016
Den geistesgeschichtlichen Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit im Kontext politischer Entscheidungsfindungsprozesse nachzuzeichnen, ist die anspruchsvolle Aufgabe, die Cornel Zwierlein sich für die nun im Druck vorliegende Münchener Dissertation gestellt hat. Konkret untersucht er so heterogene Quellengruppen und Forschungsfelder wie die Gutachten von Ratgebern, die Entwicklung politischer Entscheidungen sowie ihrer Legitimation durch Propaganda. Dabei werden das Herzogtum Savoyen-Piemont unter den Herzögen Emmanuele Filiberto und Carlo Emmanuele als Beispiel für die an italienischen Höfen des 16. Jahrhunderts üblichen Formen politischer Diskurse mit dem Südwesten Deutschlands verglichen, wobei Zwierlein hier bewusst eine Region und nicht ein einzelnes Territorium zugrunde legt, auch wenn er sich vorwiegend auf die Kurpfalz konzentriert. Als gemeinsamer Bezugspunkt der beiden Vergleichsgrößen dienen die französischen Bürgerkriege ("Religionskriege", 1562-1598), von denen diese Regionen in unterschiedlicher Weise betroffen waren und die in den politischen Beratungen sowie auch in der Propaganda eine zentrale Rolle spielten. Analysiert werden zahlreiche in den Akten erhaltene Gutachten und Vorschläge der jeweiligen Räte sowie Handlungsanweisungen und ihre Begründungen durch die Fürsten selbst und schließlich auch gedruckte Propagandaschriften.
Dabei geht es dem Autor jedoch explizit nicht um neue Erkenntnisse auf der Ebene des Ereignisablaufs (z.B. 15f.), sondern um eine Erklärung der Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen wurden. Zwierlein geht also mit einer wahrnehmungs- und kommunikationsgeschichtlichen Perspektive an seine Quellen heran, um das spezifisch Neuzeitliche politischer Entscheidungsfindung im ausgehenden 16. Jahrhundert herauszuarbeiten. Dass er dabei mit Termini wie "Verwissenschaftlichung" und "Empirie" arbeitet, ist zunächst einmal nicht wirklich neu. Der Verfasser hat jedoch das weit gesteckte Ziel, politische Entscheidungsfindungsprozesse und die ihnen zugrunde liegenden Kommunikationsvorgänge im Hinblick auf Veränderungen in der Weltdeutung zu analysieren. Zu diesem Zweck verwendet er als heuristisches Instrument die Vorstellung des "Denkrahmens". Den für seine weiteren Überlegungen zentralen Begriff ('discorso') gewinnt er aus der ausführlichen Auseinandersetzung mit den Schriften Machiavellis. Gemeint ist damit eine bestimmte Methode des Denkens und der Gewinnung von Handlungsmaximen, die Zwierlein als typisch neuzeitlich darstellt, weil sie empirisch angelegt gewesen sei und zugleich relativierend reflexiv auch mit dem eigenen Staat oder der eigenen Position umgegangen sei. Dies habe grundsätzlich ein profanes, also nicht durch religiöse Kriterien gesteuertes Abwägen von Möglichkeiten gefördert.
Dass dieser "discorso-Denkrahmen" sich zunächst in Italien entwickelt habe, sei auf die dortigen Kommunikationsbedingungen beim Übergang vom "Pergament-" zum "Papierzeitalter" zurückzuführen, der es ermöglicht habe, Nachrichten in dichter Folge zu übermitteln. Nachrichten hätten sich zunehmend von Privatkorrespondenzen gelöst, wodurch das Genre der "avvisi" entstanden sei. Zusätzlich seien italienische Fürsten früh dazu übergegangen, ständige Gesandtschaften an fremden Höfen zu unterhalten, die durch ihre regelmäßigen "dispacci" ebenfalls zur Entstehung eines "Nachrichtenhimmels", wie es bei Zwierlein heißt, beigetragen hätten, der die Voraussetzung für politische Entscheidungsträger gewesen sei, um - quasi von oben - sich selbst und alle anderen Akteure im Spiegel des Nachrichtenflusses zu beobachten. Diese Beobachterposition, die der Methode Machiavellis entspreche, habe sich in den Ratschlägen, den "discorsi", fürstlicher Räte widergespiegelt. Empirische Gegenwarts- und Situationsanalysen und ein planerisches Ausgreifen in die Zukunft, ein ständiges Abwägen der Möglichkeiten vor dem sich schnell aktualisierenden Hintergrund der Gegebenheiten zeichneten diese "discorsi" aus.
Mit diesem begrifflichen Instrumentarium ausgerüstet zeichnet Zwierlein für den savoyischen Vergleichsfall nach, wie mit Hilfe von Gegenwartsanalysen auf der Basis von möglichst aktuellen Nachrichten und von Vergleichen zwischen der gegenwärtigen Lage und längerfristigen Zielvorstellungen neue politische Vorgehensweisen entwickelt wurden. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die Staats-Wiederbegründung 1559/60, das Vorgehen gegen die Waldenser sowie die Versuche der Gebietsarrondierung. Während sich in Italien das Denken im Stil des discorso nahezu unangefochten durchsetzen konnte, trat er in Deutschland in Konkurrenz zu anderen "Denkrahmen". Die Ursache der unterschiedlichen Entwicklung sieht Zwierlein insbesondere in der Kommunikationsgeschichte beider Länder, namentlich in dem im deutschsprachigen Raum frühzeitig zur vollen Entfaltung gelangten Buchdruck, der so nirgendwo in Europa zu beobachten ist. Die Flugschriften hätten aber keinen mit den handschriftlichen "avvisi" und "dispacci" vergleichbaren "Nachrichtenhimmel" entstehen lassen, weil sie anders als die handschriftlich verbreiteten Nachrichtenmedien Italiens keine von normativen Appellen losgelösten Nachrichten vermittelt hätten. Erst zu einem späteren Zeitpunkt habe der italienisch-deutsche Kulturtransfer auch in Deutschland vergleichbare Nachrichtenmedien hervorgebracht: die "Fuggerzeitungen". Damit sei das "Papierzeitalter" quasi nachgeholt worden.
In dieser Kommunikationssituation sieht Zwierlein die Ursache dafür, dass im deutschen Südwesten zunächst andere "Denkrahmen" eine Rolle spielten. So war die politische Sprache der calvinistischen Kurpfalz wesentlich geprägt von föderaltheologischen Ansätzen und dem "Koinonia"-Gedanken, also der Idee der Gemeinschaft der Gläubigen mit Christus. Aus der reformierten Theologie konnte eine unmittelbare Handlungsaufforderung abgeleitet werden. So entstand ein Bezugspunkt politischer Entscheidungsfindung, der weniger empirisch-reflexiv als normativ war. Zwierlein spricht von der "Lex Dei", da politisches Handeln stärker auf das göttliche Gesetz als übergeordneter Norm bezogen gewesen sei. Diese Norm spielte in der Propaganda, aufgrund einer Art "Autosuggestion" der politischen Entscheidungsträger aber auch in den internen Beratungen eine entscheidende Rolle. Weitgehende politische Entscheidungen wie etwa die Entsendung von Hilfstruppen für die Hugenotten in den französischen Bürgerkriegen resultierten aus dem Denkrahmen der "Lex Dei". Zugleich stellt der Autor in Deutschland ein wesentlich am Reichsrecht orientiertes Denken fest, das er mit dem Begriff der "Reichsnormativität" zu fassen versucht, das jedoch in der calvinistischen Kurpfalz eine geringere Rolle spielte als in anderen Territorien, da der Gedanke der "Koinonia" prinzipiell transnational angelegt gewesen sei. Damit bietet sich nach Zwierlein auch ein neuer Erklärungsansatz für die immer wieder beschworene "calvinistische Internationale" an. Gleichwohl seien in der Pfalz in der Zeit der französischen Bürgerkriege erste Ansätze zur Übernahme des discorso fassbar.
Zwierlein gelingt es zwar, einen theoretischen Ansatz zur Analyse politischer Entscheidungsfindungen vorzulegen, der Kommunikation und Wahrnehmung als herausragende Faktoren politischer Entscheidungsfindung ernst nimmt, doch entsteht zugleich der Eindruck, dass die Quellenanalyse zu sehr von theoretischen Vorannahmen bestimmt wird, denn das Theorem der "Denkrahmen" wird bereits zu Beginn der Arbeit in ausführlicher Weise entfaltet, um anschließend die Quellen weitgehend unter dieser theoretischen Vorgabe zu betrachten. So bleibt letztlich unklar, ob die Ergebnisse seiner Studie eigentlich der empirischen Quellenanalyse zu verdanken sind oder der zuvor entwickelten Theorie.
Auch Begriffsneubestimmungen, die Zwierlein vornimmt, vermögen nicht immer zu überzeugen. So glaubt er etwa, den Begriff des "Absolutismus" in der geschichtswissenschaftlichen Diskussion wieder revitalisieren zu können, indem er entgegen neueren Kontinuitätsthesen das qualitativ Neue der - hier bereits im 16. Jahrhundert beginnenden - Epoche heraushebt: Die durch den "discorso-Denkrahmen" gegebene losgelöste reflexive Beobachterposition des Herrschers und seiner Räte, die ein empirisches Abwägen von Handlungsmöglichkeiten zur Folge gehabt habe, könne sehr wohl als "absolutistisch" bezeichnet werden. So plausibel dies auf den ersten Blick sein mag, so missverständlich und problematisch ist es doch, einen etablierten Begriff, der mit ganz bestimmten Inhalten verknüpft ist, völlig neu zu bestimmen.
Bei all dem verlangt Zwierlein dem Leser zweifellos einiges ab. Seine Studie, aus deren ursprünglichem Dissertationstext bereits Teile ausgelagert wurden, imponiert durch ihren Umfang, enthält aber zweifellos auch Längen, so dass der rote Faden bisweilen aus dem Blick zu geraten droht. Zahlreiche ausführliche Quellenzitate in französischer, italienischer und lateinischer Sprache unterbrechen immer wieder den Lesefluss, und bisweilen vermisst man Belege und exakte Nachweise. Insgesamt erwartet aber den Leser, der die Mühe nicht scheut, eine glänzend geschriebene, vielfach überraschende und zum weiteren Nachdenken anregende Lektüre.
Ulrich Niggemann