Geoffrey Roberts: Stalin's Wars. From World War to Cold War, 1939-1953, New Haven / London: Yale University Press 2007, 496 S., ISBN 978-0-300-11204-7, USD 35,00
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Geoffrey Roberts entmystifiziert Stalin und bewertet ihn neu. Er erkennt ihn als den historischen Akteur an, der die entscheidende Rolle für den schwer errungenen Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland gespielt hat. Der am University College Cork in Irland lehrende Historiker, der durch eine Vielzahl von Untersuchungen zur sowjetischen Außenpolitik ausgewiesen ist, stützt sich auf angelsächsische und russische Forschungsliteratur und bezieht zu vielen der dortigen Kontroversen klare Positionen. Die deutschsprachige Forschung bleibt dagegen weitgehend unberücksichtigt. Zentral sind für Roberts die sowjetischen Quellen aus russischen Archiven, die er sehr sinnvoll durch eine intensive Heranziehung sowjetischer Zeitungen und Zeitschriften ergänzt. Bei der Auswertung der veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen zum Denken und Handeln Stalins hat er Vollständigkeit angestrebt. Neben einer "Chronology of Major Events", einer ausführlichen Einleitung, knappen Schlussfolgerungen und einer Auswahlbibliografie gliedert sich die klar formulierte Arbeit in zwölf programmatisch betitelte Kapitel und verfügt über einen reichen Anmerkungsapparat.
Mit klugen Argumenten widerspricht Roberts allen Versuchen, Stalin durch die Zuschreibung einer abenteuerlichen Politik am Vorabend des Zweiten Weltkriegs auf eine Stufe mit Hitler zu stellen. Dabei lässt er jedoch außer Acht, dass die Gewaltakte Stalins gegenüber Polen, Finnland, den baltischen Staaten und Rumänien nicht nur das Verhältnis der UdSSR zu diesen Staaten dauerhaft vergifteten und in den nachfolgenden Jahren für die Anti-Hitler-Koalition unlösbare Probleme schufen, sondern auch in Moskau die politisch-diplomatische Vorbereitung auf einen möglichen Krieg mit NS-Deutschland verhinderten. Bei der Darstellung der letzten zehn Wochen vor dem deutschen Angriff auf die UdSSR geht Roberts über bisher Bekanntes weit hinaus. Während Stalin in diesen Wochen seine Appeasementpolitik gegenüber Deutschland verstärkte, bereitete er gleichzeitig die UdSSR intensiv auf einen Krieg mit Deutschland vor. Der deutsche Überfall überraschte in London, Washington und in Moskau niemanden (70). Mit der Radio-Ansprache Churchills vom 22. Juni 1941 war die Grand Alliance geboren. Diese Allianz ist für Roberts so selbstverständlich, dass er im Unterschied zu vielen anderen Historikern ihr Zustandekommen, ihre Entwicklung und ihren Wandel nicht kritisch hinterfragt. Den viel treffenderen, wenn auch holprigen sowjetischen Begriff "Anti-Hitler-Koalition" hält er für unzureichend und benutzt ihn nur vereinzelt.
Im Mittelpunkt des Buches steht der Umschwung des Krieges zwischen dem Frühjahr 1942 und dem Sommer 1943. Roberts konzentriert sich dabei auf Stalins entschlossenen Umgang mit der Katastrophe, in die nicht nur der deutsche Blitzkrieg, sondern auch er selbst die UdSSR gestürzt hatte, als er der Roten Armee verfrüht eine Offensivtaktik aufzwang, die schon in den ersten Wochen hunderttausende Sowjetsoldaten der Vernichtung auslieferte. Žukov und andere sowjetische Militärs werden dabei zu Nebenhelden erklärt, deren weitgehend reibungsloses Zusammenspiel mit Stalin viel Aufmerksamkeit findet. Sehr übersichtlich und mit vielen Karten erklärt Roberts die Abläufe der deutschen und sowjetischen Kampfhandlungen.
Bei der Analyse von "The Politics of War" kommt Roberts' Stärke, die Diplomatiegeschichte, zum Tragen. Stalin sah den Krieg gegen Deutschland nicht nur als militärische, sondern ebenso als außenpolitische Herausforderung. Souverän verweist Roberts die vielfältigen Legenden über deutsch-sowjetische Separatfriedensbestrebungen in das Reich der Fantasie. Statt an einen Sonderfrieden dachte Stalin seit Herbst 1941 an Kriegsziele. Darin will Roberts jedoch keine Quelle von Konflikten, sondern ein Unterpfand für eine langfristige Kooperation der drei Mächte sehen (168). Die Auflösung der Kommunistischen Internationale im Mai 1943 wird in den Zusammenhang zweier Entwicklungen gestellt: Der "patriotic reinvention" der Kommunistischen Parteien in ganz Europa und der Katyn-Krise. Es offenbart viel über seine verständnisvolle Haltung, wenn Roberts einräumt, dass Stalin die "Komplikationen", die sich aus der Massenexekution der Polen ergaben, 1943 bitter bedauert haben muss (171). Im Zusammenhang mit dem Warschauer Aufstand tritt Roberts ähnlich wie Richard Overy der Annahme entgegen, Stalin habe bewusst den Aufständischen in Warschau Hilfe verweigert (206). Breiten Raum widmet Roberts den 1943 beginnenden sowjetischen Friedensplanungen, der Moskauer Außenministerkonferenz und den Treffen der großen Drei in Teheran und Jalta. Durch quellenkritische Vergleiche legt er die bis Februar 1945 dominierende Fixierung Stalins auf die "Aufgliederung" Deutschlands offen. Die Abwertung der berühmten Prozentreglung, die Churchill im Oktober 1944 mit Stalin in Moskau traf, überrascht dagegen nicht.
Mit 'Befreiung, Eroberung und Revolution' betitelt Roberts Stalins Vorgehen in Osteuropa und Deutschland im Frühjahr 1945. Stalin werden für das Ende des Krieges zwei gegensätzliche Ziele zugeschrieben. Einerseits wollte er die Grand Alliance fortsetzen, um vor allem einer Wiederbelebung der von Deutschland ausgehenden Gefahren zu begegnen. Andererseits wollte er nicht darauf verzichten, seine langfristigen Ziele in Europa durchzusetzen, um sich an der Westgrenze der UdSSR auf befreundete Staaten stützen zu können. Roberts versucht, diesen Widerspruch so zu erklären: "A postwar political struggle with the west was not Stalin's preferred choice but it was a challenge he was prepared to face if the alternative was to accept a loss of Soviet influence and control in Eastern Europe. Having won the struggle against Hitler at such great cost, Stalin had no intention of losing the peace, even if that meant waging a dangerous cold war." (253). Die Spannungen, die sich im sowjetisch-amerikanischen Verhältnis mit dem Amtsantritt von Truman ergaben, werden entdramatisiert und die gute Atmosphäre zwischen Stalin und seinen vor und während der Potsdamer Konferenz wechselnden (Truman anstelle Roosevelts und Attlee anstelle Churchills) westlichen Partnern wird hervorgehoben. Die sowjetische Führung war mit den Konferenzergebnissen höchst zufrieden. Während Roberts einräumt, dass der Krieg gegen Japan Stalins eigener Krieg, nicht der Krieg des sowjetischen Volkes war, gibt er andererseits zu bedenken, dass die Erwartungen des sowjetischen Volkes, das für den Sieg alles gegeben und ein präzendenzloses nationales Trauma erlitten hatte, Teil der politischen Realität waren, mit der der Diktator (diese Klassifikation wird im Buch gemieden) zu rechnen hatte. Damit waren der Kompromissbereitschaft Stalins gegenüber den Westmächten in Europa Schranken gesetzt . Ein Rückzug auf die Grenzen vom 1. September 1939 wäre kaum möglich gewesen, ohne das stalinistische System zu gefährden.
Die Nachkriegszeit, für die die Zeugnisse zu Stalins Denken lückenhafter und seine Taten widersprüchlicher werden, wird nicht nur kürzer, sondern auch weniger klar dargestellt. Stalin erscheint hier als gescheiterter Wahrer der Grand Alliance, deren Bruchpunkt mit der Verkündung des Marshallplans erreicht worden sei. Mit der Gründung des Kommunistischen Informationsbüros eröffnete Stalin offensiv den Kalten Krieg: "Indeed for Stalin the purpose of waging the cold war was not only to protect Soviet interests but to inflict a political and ideological defeat on warmongers in the west." (S. 320). Im Widerspruch zu dieser klaren Aussage rechnet es Roberts Stalin als Verdienst an, trotz der unnachgiebigen Haltung seiner westlichen Partner gegenüber den Sicherheitsinteressen der UdSSR weiterhin nach einem modus vivendi gesucht zu haben, um den Kalten Krieg zu drosseln und einen dauerhaften Frieden zu begründen (346). Tatsächlich bildete die Außenpolitik Stalins in den Jahren 1948-1953 ein Kaleidoskop widersprüchlicher Elemente. Der Bruch mit Tito, die Berliner Blockade, der Korea Krieg, die Stalin-Noten, all das lässt sich schwer auf einen Nenner bringen. Doch genau das versucht Roberts mithilfe der 'deutschen Frage', worunter er - wie Stalin - die Frage versteht, wie sich das deutsche Macht- und Aggressionspotenzial eindämmen oder zähmen ließ. Diese Frage traf den Nerv von Stalins Sicherheitsstreben. Ähnlich wie Wilfried Loth glaubt Roberts, die deutsche Frage habe Stalin gezwungen, nach Wegen zu suchen, um den selbst mitentfesselten Kalten Krieg abzubrechen, "even at the cost of sacrificing communist-controlled East Germany" (347).
Immer am Rande der Gefahr, zu großen Respekt vor Stalin zu entwickeln, ist es Roberts gelungen, die enormen Risiken, Probleme, Fehlleistungen und Siege aufzuzeigen, die mit der Person und dem Mythos Stalin verbunden bleiben. Dies ist eine faszinierende Leistung. Doch obwohl die unzähligen Verbrechen Stalins in keiner Weise geleugnet werden, kommt der Massenmörder und intolerante Machtpolitiker Stalin zu kurz. Der Rezensent fragt sich überdies, warum der Autor das Wirken Stalins nur selten vor dem Hintergrund der Passivität bzw. Aktivität der Westmächte zeigt. Die Logik seiner Argumentation hätte dadurch nur gewinnen können. Nichtsdestoweniger ist dieses Buch ein Meilenstein in der Erforschung von Stalins Kriegsführung und Kriegsdiplomatie.
Jochen Laufer