Rezension über:

Jim Cheshire: Stained Glass and the Victorian Gothic Revival (= Studies in Design), Manchester: Manchester University Press 2004, xv + 182 S., 12 Farb-, 56 s/w. Abb., ISBN 978-0-7190-6346-6, GBP 49,99
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Rezension von:
Susanne Gierczynski-Richter
Münster
Redaktionelle Betreuung:
Michaela Braesel
Empfohlene Zitierweise:
Susanne Gierczynski-Richter: Rezension von: Jim Cheshire: Stained Glass and the Victorian Gothic Revival, Manchester: Manchester University Press 2004, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 4 [15.04.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/04/8157.html


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Jim Cheshire: Stained Glass and the Victorian Gothic Revival

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Jim Cheshire hat mit seiner Publikation über die Glasmalerei der Viktorianischen Neogotik eine Studie vorgelegt, die Ursachenforschung in Sachen Popularitätszuwachs dieser spezifischen künstlerischen Gattung betreibt.

Auf etwa 180 Seiten erarbeitet der Autor einen Kontext, der die Gründe für das enorme Anwachsen der Glasmalerei jenes Epochenabschnitts zwischen den Jahren 1835 bis 1860 offenbaren will. Wenn Cheshire einleitend bemerkt: "The scale of the Victorian stained-glass industry was unprecedented and since its decline in the late nineteenth century has not been equalled. From my perspective this makes the Victorian period the most important episode in the history of British glass-painting" (ix), so bleibt er dem Leser eine zumindest ungefähre Mengenangabe über die entstandenen Glasmalereien jenes Epochenabschnitts schuldig. Da hilft es vielleicht weiter, wenn man bedenkt, dass allein der englische Architekt und Architekturschriftsteller Pugin - ein erwiesener Verfechter und Förderer neogotischer Glasmalerei - seit 1830 über 60 Kirchenbauten entwarf, denen wir eine neogotische Befensterung unterstellen dürfen.

Leider hängt Cheshires zweites Statement mit der so auffällig unanschaulich gehaltenen ersten These aufs Engste zusammen: Die viktorianische Epoche sei als bedeutendste Episode in der Geschichte der britischen Glasmalerei aufzufassen und nicht - wie einige Fachgelehrte behaupten - die Zeit des Mittelalters (ix). Ob der Autor von einer rein quantitativen oder einer qualitativen Bedeutungssteigerung in der viktorianischen Glasmalereiproduktion ausgeht, bleibt ungeklärt.

Das erste Kapitel, das mit "Glasmalerei und Viktorianische Kultur" titelt, beinhaltet das kunsttheoretische Fundament der Untersuchung. In neun Unterkapiteln, deren Aufteilung man gerne im Inhaltsverzeichnis vorgefunden hätte, wird das Verhältnis von Kirche und Kunst beleuchtet. Zentral für die Wiederbelebung der britischen Glasmalerei des 19. Jahrhunderts waren die Theorien des prominentesten englischen Neogotikers Augustus Welby Northmore Pugin (1812-1852), der stellvertretend für eine Künstlerschaft steht, die sich der mittelalterlichen Kunstschöpfung nicht nur als ästhetischer, sondern auch als moralischer Kategorie verpflichtet fühlte (5).

Pugins Forderung, dass ein Gebäude, d. h. zugleich jedes gestaltete Objekt, seine Konstruktion nicht zu verbergen, sondern vielmehr zu offenbaren habe, sollte in der Folge - so Cheshire - auch für die Glasmalerei entscheidende Bedeutung erhalten. In Analogie zum mittelalterlichen Werkgedanken und in Abkehr von einem formenüberladenen Historismus, wurde ein materialgerechtes Arbeiten und Verarbeiten gefordert, wobei Cheshire auf Pugins Beispiel der Gestaltung mittelalterlicher Metallarbeit hinweist, die in Harmonie mit den grundsätzlichen Anforderungen des Metalls standen und vorbildlich auch für die Glasmalerei angesehen wurde. Den Nachweis, wie diese Forderungen am konkreten Beispiel glasmalerischer Arbeit mal mehr oder auch mal weniger umgesetzt wurden, bleibt Cheshire dem Leser in der Folge schuldig.

Die Rolle der Kirche hatte in der viktorianischen Epoche in mehrfacher Hinsicht Bedeutung bei der Neubelebung der Glasmalerei: In dem Maße, wie die Population wuchs, gab es einen Zugewinn bei der Anzahl der Gottesdienste, der Geistlichkeit und der Kirchen. Insgesamt gesehen besaß die Kirche von England die bei weitem wichtigste institutionelle Einflussmöglichkeit bei der Wiederbelebung der Glasmalerei jener Epoche. Dabei konstatiert der Autor interessanterweise, dass das meiste Geld für Kirchenbauten im England des 19. Jahrhunderts aus privaten Quellen stammte (4). Die Gotik wurde als verbindliche Stileinheit für religiöse Bauten verwendet. Mit der 1839 gegründeten "Cambridge Camden Society" formierte sich eine Gruppe, die in erster Linie architekturhistorisch ausgerichtet war und in ihrem Journal, dem "Ecclesiologist", das Wiederaufleben der Glasmalerei diskutierte (10). Die Begeisterung der "Ecclesiologisten" für die Glasmalerei lag, laut Cheshire, darin begründet, dass mit dem Ende des Mittelalters diese Gattung ausgestorben sei und nun unter ihrer Führung neu belebt und zu neuem Ansehen geführt werden sollte. In Abgrenzung zur georgianischen Glasmalerei und deren Anspruch von Tiefenperspektive und jenen malerischen Qualitäten, wie sie die Ölmalerei hervorzubringen vermag, propagierte diese neogotische Gruppierung in Orientierung am Mittelalter die lineare, zweidimensionale und schattierungsfreie Glasmalerei. Es bleibt bemerkenswert, dass ungefähr zur gleichen Zeit in Deutschland vergleichbare bis identische Forderungen und Beobachtungen von August Reichensperger (1808-1895) aufgestellt wurden, die dieser 1854 in seiner Publikation "Fingerzeige auf dem Gebiete der kirchlichen Kunst" veröffentlichte. [1]

Jenseits der kirchlichen Zirkel fand die Glasmalerei Erwähnung und Propagierung durch die Weltausstellung, die 1851 erstmals in London stattfand (dazu Cheshire in einem späteren, die Untersuchung abschließenden Kapitel näher). Sie wurde durch drei Autoren und Glasmaler, James Ballantine, Charles Winston und William Warrington vertreten - leider sämtlich ohne Lebensdaten von Cheshire präsentiert. Diese künden von einer gelungenen Glasmalerei, so sie die "wahren Prinzipien" der Glasmalerei befolgt, wobei alle drei Autoren ihre eigenen Versionen dieser Prinzipien etablieren. Cheshire arbeitet auf über fünf Seiten (17-22) die unterschiedlichen Standpunkte heraus. Ein Abgleich mit deutschen Positionen in der Glasmalereiproduktion jener Jahre wäre für die weitere Erforschung sicher aufschlussreich.

Das Erbe der viktorianischen Glasmaler entspricht in etwa den Voraussetzungen und Bedingungen der zeitgleichen deutschen Glasmalergeneration. Hier wie dort war die enge Verquickung von dem Denken einer Malerei in Öl mit jener der Glasmalereitechnik für die Entwicklung letzterer nicht förderlich. Unter dem Eindruck der gotischen Kunst hingegen wurde ein summarischer Linien- und Farbduktus angestrebt, der das Material Glas weitgehend unverfälscht - d.h. ohne Bemalung - verarbeitet sehen wollte.

Cheshire, der sich wiederholt den Marktbedingungen für die Glasmalerei jener viktorianischen Epoche zuwendet, offeriert in der Folge kurze Lebens- und Produktionsbedingungen von acht Glasmalern jener frühen viktorianischen Epoche, um in den anschließenden drei Kapiteln schließlich mit John Toms of Wellington (1812-1869), der Beer-Familie und Joseph Bell detailreich auf drei zentrale Produktionsstätten viktorianischer Glasmalerei einzugehen.

Den Anteil der Glasmalerei an einer geglückten Innenraumgestaltung, die einem Kircheninneren einen ganz spezifischen Charakter zu verleihen vermag, sieht Cheshire am Beispiel von St. Michael and All Angels in Sowton veranschaulicht. Die Tatsache, dass die Planung des Befensterungsschemas und der weiteren Innenausstattung dieses Kirchenraumes in einer Hand lag, war laut Cheshire Garant für die zufrieden stellende Gesamterscheinung. Am Beispiel von St. Mary the Virgin in Ottery St. Mary zeigt der Autor die Schwierigkeiten auf, welche eine Planung hervorbringt, die aus unterschiedlichen Quellen hervorgeht.

In summa konnte die Glasmalereiproduktion Englands zwischen 1840 und 1860 derart expandieren, weil die Kirche von England die "Notwendigkeit eines internen Wiederauflebens verspürte" (155) und dieses durch einen vermehrten Kirchenbau zu erreichen suchte. Der gotische Stil erhielt Vorbildcharakter, was eine Vielzahl von Theoretikern, Gestaltern und Architekten mit ihren Schriften unterstützte. Die Glasmalerei sprang auf diesen fahrenden gotischen Zug mit auf und erhielt in der Folge äquivalent dazu vermehrt Auftragsarbeiten. Geschah dies in dem relativ abgegrenzten Bereich der Kirche und ihrer Architektur, so wurde die Glasmalerei als Gattung einer breiteren Öffentlichkeit durch die Weltausstellung 1851 zu Bewusstsein gebracht. Ermutigend für das künstlerische Selbstverständnis der Glasmaler war, so Cheshire, dass die Glasmalerei nicht ausschließlich in der Abteilung für Gebrauchsglas präsentiert wurde, sondern unter der Maßgabe "architektonische Dekoration" zu sein, der hohen Kunst der Architektur zugesellt wurde. Bis heute gilt es für die Glasmalerei, jener Gratwanderung standzuhalten, die sich aus ihrer "dienenden" Funktion der Architektur gegenüber ergibt und zugleich aus einem gesunden Selbstverständnis heraus ein eigenes stilistisches Profil zu entwickeln.

Die Schwierigkeit, die die Glasmalerei mit ihrem eigenen stilistischen Selbstverständnis hat, spiegelt sich in mancher kunsthistorischen Untersuchung wider. Auch Jim Cheshires Untersuchung leidet an dem Unvermögen, die Glasmalerei der viktorianischen Ära einer direkt am Beispiel verifizierbaren Stiluntersuchung zu unterziehen. Die Theoreme, die der erste Teil des Bandes ausarbeitet, werden an keinem Beispiel der besprochenen Glasmalereien verifiziert.

Aufschlussreich ist hingegen die enge Verwandtschaft, die zwischen den englischen und deutschen Neogotikern zu beobachten ist, die sich auf eine vergleichbare Art und Weise um die Enträtselung und Festlegung "wahrer" Prinzipien einer einzig "wahren" Glasmalerei bemühten.

Wer sich der Glasmalerei und ihrer Geschichte verschrieben hat, dem sei Cheshires Band nahe gelegt, denn das Feld der neogotischen Glasmalerei in England ist in der deutschen Forschung noch lange nicht präsent genug.


Anmerkung:

[1] Vgl. Johannes Ralf Beines: Materialien zur Geschichte farbiger Verglasungen von 1780 bis 1914, vorzugsweise für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, in: Farbfenster in Bonner Wohnhäusern (= Arbeitshefte Landeskonservator Rheinland 24), hrsg. von Waldemar Haberey, Suzanne E. Beeh, Johannes Ralf Beines, Köln 1979, 104-105.

Susanne Gierczynski-Richter