Allan Mitchell: A Stranger in Paris. Germany's Role in Republican France, 1870-1940, New York / Oxford: Berghahn Books 2006, viii + 95 S., ISBN 978-1-84545-125-7, GBP 11,95
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Die im Vorwort mitgeteilte Intention des Verfassers besteht darin, eine knapp gehaltene Geschichte der Dritten Republik zu präsentieren und dabei besonderes Gewicht auf die deutsch-französische Beziehungsgeschichte zu legen. Dafür hat sich Allan Mitchell, der als Autor fundierter Arbeiten zur deutschen und französischen Geschichte und zum deutsch-französischen Konkurrenzverhältnis im 19. und 20. Jahrhundert bekannt ist, gerade einmal 77 Textseiten gegönnt, denen eine kommentierte Bibliografie beigegeben ist.
Mitchells Absage an eine isolierte Nationalgeschichte folgt der von der neueren Forschung vielfach geübten Praxis, die jeweiligen internationalen und transnationalen Kontexte angemessen zu beachten. Im Fall der französischen Dritten Republik aber sei es geradezu geboten, die durchgehend direkt oder indirekt zu spürende Präsenz des deutschen Nachbarn zu betonen. Auf der Umschlagseite des Bändchens sieht man Hitler mit dem Eiffelturm im Hintergrund - wahrhaftig ein "Fremder in Paris", der seine antiwestliche Programmatik als Gegenentwurf zu den Ideen der Französischen Revolution verstanden hat. Mitchell handelt aber nicht nur von deutscher Überlegenheit und Aggression, sondern auch von Einflüssen und Transfers und ist vor allem um Komparatistik bemüht. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg, der sowohl von traumatischer Wirkung war, als auch Frankreichs "finest hour" (65) dargestellt habe.
Insgesamt erscheint die Dritte Republik als Erfolgsgeschichte, wäre da nicht Deutschland gewesen, das über das größere Potential verfügte und schließlich die Republik enden ließ, wie sie begonnen hatte, nämlich mit einer militärischen Niederlage. Die Darstellung Mitchells bietet keinen chronologischen Abriss, sondern gliedert sich in zehn Themenblöcke. Zunächst erfolgt ein Überblick über die langen Jahrzehnte der Instabilität zwischen 1815 und 1870, als innergesellschaftliche und innenpolitische Gegensätze sowie häufige Regimewechsel das Leben der Franzosen prägten. Darauf folgt ein Abschnitt über die "Improvisierung der Dritten Republik". Ungeachtet retardierender Momente habe sich bald ein republikanischer Konsens über zentrale Fragen wie nationale Identität und Staatsverständnis (laizistischer Staat) herausgebildet. Zugleich war es Deutschland, wo der deutsch-französische Krieg ebenfalls eine Weichenstellung darstellte, das auf bisher unbekannte Art eine Rolle zu spielen begann: "The Third Republic was constantly confronted in all aspects of public life with an imposing German presence in its midst. Henceforward, the most vital issue of French politics, in the largest sense, was the German question. That primary fact continued to pertain between 1870 and 1940 whether France was facing an imperial, republican, or fascist regime. Germany was to change in appearance over time, but for France the irrepressible challenge of a formidable Teutonic neighbour remained. The stranger had come to stay." (7).
In den folgenden Kapiteln befasst sich Mitchell mit Fragestellungen, die ihm zur Strukturierung der Geschichte der Dritten Republik dienen, die zugleich aber seine Hauptthese bisweilen auch relativieren. Denn nicht alle 'Aspekte des öffentlichen Lebens' waren in gleicher Weise von der 'deutschen Frage' betroffen. Die Auffassung von den Aufgaben des Staates wich in beiden Ländern deutlich voneinander ab. Die Vorstellung vom modernen Interventionsstaat hatte in Frankreich zunächst keinen Platz, gewann aber nach dem Ersten Weltkrieg - auch infolge der seit 1871 'deutsch' sozialisierten Elsässer und Lothringer - deutlich an Boden. Die nächsten Kapitel zur demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung erörtern die bekannten Unterschiede, die sich nach 1918 infolge des Innovationsdrucks, unter dem Deutschland nach der Kriegsniederlage stand, noch einmal verstärkten. Es folgen Abschnitte zur Geschlechtergeschichte und zum Bildungssystem, bevor sich Mitchell in mentalitäts- und sozialgeschichtlicher Perspektive der Einstellung gegenüber Ausländern im Einwandererland Frankreich zuwendet. Schließlich befasst er sich mit dem Aufschwung der sozialistischen Partei seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und stellt die Unterschiede zwischen SPD und SFIO gebührend heraus. Im letzten Kapitel widmet er sich der französischen Niederlage von 1940, die er auf Modernisierungsdefizite und innere Zerklüftung, auf Konfliktscheu und Niedergangsstimmung zurückführt: "Republican France was tired." (76).
Mitchells Essay, der ohne Fußnoten auskommt, stellt eine anregende Lektüre dar, bleibt aber ein Essay, der sich auf das Schlagen von unterschiedlich begehbaren Schneisen beschränkt. Wie er selbst einräumt, darf dem "Faktor Deutschland" kein deterministisches Gewicht zugemessen werden. Auch wenn der "fremde" Nachbar im französischen Bewusstsein stets präsent gewesen sein mag, so blieben die innerfranzösischen Strukturen doch häufig davon unberührt. Anders verhielt es sich im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, die aber nicht im Zentrum von Mitchells Interesse steht.
Gottfried Niedhart