Klaus Hildebrand / Eberhard Kolb (Hgg.): Otto von Bismarck im Spiegel Europas (= Otto-von-Bismarck-Stiftung. Wissenschaftliche Reihe; Bd. 8), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, IX + 205 S., ISBN 978-3-506-75659-6, EUR 16,90
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Über einen Mangel an Büchern zu Otto von Bismarck kann wohl kaum geklagt werden. Auch die Außenwahrnehmung des Deutschen Reichs ist kein ganz unbeackertes Feld. Dennoch fügt der vorliegende Band, der den Blick der europäischen Nachbarn auf die Person des Reichsgründers fokussiert, der Bismarckliteratur tatsächlich eine neue Facette hinzu. Die zehn Beiträge dokumentieren die vierte wissenschaftliche Tagung der Otto-von-Bismarck-Stiftung, die im Juni 2004 stattfand. Lothar Höbelt analysiert das Bismarckbild in Österreich, Holger Afflerbach die italienische Sicht, Horst Lademacher die Einschätzungen in Belgien und den Niederlanden, Peter Stadler das Bismarckbild der Schweiz, Carsten Due-Nielsen dasjenige in Dänemark, Przemysław Matusik den Diskurs über Bismarck im dreigeteilten Polen, Helmut Altrichter das Bild Bismarcks in Russland, Sandrine Kott Bismarckbilder in Frankreich und Karina Urbach Bismarck im Urteil Großbritanniens. Volker Ullrich schließlich umreißt, von der Außen- zur Innenperspektive wechselnd, das Bismarckbild der Deutschen im Wandel der Zeiten. Abgesehen von Ullrich und Stadler beschränken sich die Autoren auf zeitgenössische Wahrnehmungen Bismarcks. Alle Beiträge sind auf Deutsch verfasst und auch Zitate sind, abgesehen von englischen sowie einigen wenigen französischen und italienischen, übersetzt. Das Buch richtet sich also an eine deutsche Leserschaft, bei der zugleich vorausgesetzt wird, dass sie mit Bismarcks Werdegang und Politik bereits vertraut ist.
Welchen Ertrag verspricht die Rekonstruktion jener Bilder, die sich die europäischen Nachbarn vom führenden deutschen Staatsmann der Epoche machten? Klaus Hildebrand verweist in seinem die Beiträge zusammenfassenden Schlusswort auf einen potenziellen Mehrwert, nämlich dass die Rekonstruktion dazu verhelfe, "ein gutes Stück europäischer Geschichte zu erschließen" (201). Es sollte also, anders formuliert, nicht nur darum gehen, Bismarck im Spiegel Europas zu erfassen, sondern auch Europa im Spiegel Bismarcks. Den meisten Beiträgen gelingt eine solche Erschließung von Einblicken in Geschichte und Selbstverständnis der jeweiligen Nation gut. Afflerbach beispielsweise skizziert zunächst die politischen Grundstrukturen Italiens im Gefolge der nationalen Einigung und klärt so präzise die gesellschaftlich-weltanschauliche Position, von der aus die schmale, sich als liberal verstehende politische Führungsschicht ihr Urteil über Bismarck und den 'bismarckismo' fällte. Due-Nielsen informiert anschaulich über die Entwicklung der deutsch-dänischen Beziehungen und die innerdänischen Kräftekonstellationen, um dann vor diesem Hintergrund darzulegen, wie Bismarck als schlagkräftiges Argument in den Auseinandersetzungen zwischen den beiden politisch-ideologischen Lagern des Landes instrumentalisiert wurde. Altrichter arbeitet mit Bezug auf Russland ebenfalls deutlich heraus, wie stark die jeweils gezeichneten Bismarckbilder von innerrussischen Debatten abhängig waren: Das Reden über Bismarck war immer zugleich ein Reden über Russland, über die eigene nationale Identität in Orientierung am oder Abgrenzung vom 'Westen'.
Manch andere Autoren hingegen bemühen sich weniger um eine explizite Verortung von Urteilen über Bismarck in ihrem spezifischen nationalen Kontext, was nicht nur den Gewinn für Leser ohne nähere Vorkenntnisse der jeweiligen Landesgeschichte mindert, sondern auch die Auswahl der berücksichtigten Stimmen bisweilen etwas beliebig erscheinen lässt. So stellt etwa Stadler die an sich sehr berechtigte Frage, ob es in der Schweiz überhaupt so etwas wie ein kollektives Bild von Bismarck gegeben habe oder nicht nur eine Vielzahl von Meinungen. Dass sein Beitrag dann wirklich einen eher inkohärenten Eindruck hinterlässt, liegt aber nicht zuletzt daran, dass er die zitierten Stellungnahmen nicht schlüssig an Debatten über das Schweizer Selbstverständnis in Relation zum großen nördlichen Nachbarn koppelt; vielmehr bleiben zentrale Stichworte wie der 'Wohlgemuth-Handel', an dem sich solche Debatten hätten festmachen lassen, unkommentiert im Raum stehen. Wenn somit auch nicht alle Beiträge in dieser Hinsicht gleichermaßen überzeugen, eröffnen sie insgesamt doch ein anregendes Panorama auf Europa im Zeitalter Bismarcks.
Von ihrem methodischen Ansatz her sind die meisten Beiträge, obwohl der Klappentext des Bandes mit neuen kultur- und politikgeschichtlichen Perspektiven wirbt, eher konventionell. Sie stützen sich überwiegend auf Aussagen von führenden Männern aus Regierungen, Diplomatie und Parteien, teils auch aus dem Geistesleben. Daneben ziehen fast alle die Presse heran, die sie jedoch ebenfalls primär in ihrer Funktion als Sprachrohr der politisch tonangebenden Kreise auswerten. Welche Vorstellungen in die breitere Bevölkerung transportiert wurden, kommt in den meisten Beiträgen nicht oder nur am Rand zur Sprache. Am konsequentesten greift Sandrine Kott bezüglich Frankreichs über die Elitensicht hinaus, indem sie danach fragt, welche Rolle Bismarck bei der Konstruktion von stereotypisierten nationalen Selbst- und Fremdbildern spielte. Sie zieht dazu, obgleich etwas eklektisch, neben der Presse auch Schulbücher, Lieder, Karikaturen heran und verweist auf zunächst kurios anmutende, aber doch vielsagende Ausdrucksmittel wie die Benennung von Hunden nach Bismarck - was, wie Karina Urbach erwähnt, in England ebenfalls vorkam, aber mit einem anderen Bedeutungsgehalt. Hier werden Möglichkeiten deutlich, wie sich der herkömmliche Quellenfundus gewinnbringend erweitern lässt. Kott nimmt auch den Begriff des Bildes, den die meisten Aufsätze im Titel führen, am ernstesten. Zwar muss ihr Beitrag, wie der ganze Band, ohne die Wiedergabe von visuellen Quellen auskommen; sie geht aber darauf ein, wie populäre Medien Bismarcks Physiognomie, Körpergestalt, Kleidung und Manieren beschrieben und ihn zum grobschlächtigen, barbarischen, gefräßigen Junker mit Pickelhaube stilisierten. Das sind keine irrelevanten Äußerlichkeiten, denn Bismarck stand eben nicht nur für sich selbst, sondern wurde zur Chiffre für Preußen-Deutschland.
Das Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihm machte, war Bismarck selbst bekanntlich nicht gleichgültig: Er ließ, woran Eberhard Kolb in seiner knappen Einführung erinnert, zahlreiche Porträts von sich verbreiten und beeinflusste die Presse, durchaus auch im Ausland, wie Urbach nachweist. Gemessen an seinen Sympathiewerten bei den europäischen Nachbarn war diese Imagepflege allerdings kaum erfolgreich. Zwar waren die Meinungen keineswegs homogen, sie variierten je nach tagespolitischen Ereignissen und politisch-ideologischem Standpunkt. Viele ausländische Beobachter bewunderten Bismarck durchaus als großen Staatsmann und schätzten sein diplomatisches Geschick. Aber insgesamt, das ist das wohl zentrale Ergebnis des Bandes, blieb doch ein großes Unbehagen. Und was relevanter ist: diese Abneigung färbte von Bismarck auf das von ihm geschaffene Reich und auf die Deutschen ab. Nicht nur der Beitrag zu Frankreich, sondern auch die zu Italien, Dänemark, Polen und Russland weisen darauf hin, dass die Wahrnehmung Bismarcks wesentlich dazu beitrug, ein negativ gefärbtes Deutschlandbild zu prägen, mit Langzeitwirkungen weit über seine eigene Zeit hinaus.
Beate Althammer