Stefan Kroll: Soldaten im 18. Jahrhundert zwischen Friedensalltag und Kriegserfahrung. Lebenswelten und Kultur in der kursächsischen Armee 1728-1796 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 26), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2006, 654 S., ISBN 978-3-506-72922-4, EUR 88,00
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Michael Busch / Stefan Kroll / Rembrandt D. Scholz (Hgg.): Geschichte - Kartographie - Demographie. Historisch-Geographische Informationssysteme im methodischen Vergleich, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013
Die Habilitationsschrift von Stefan Kroll (Rostock) beschäftigt sich nicht allgemein mit "Lebenswelten und Kultur in der kursächsischen Armee". Krolls Aufmerksamkeit gilt ausdrücklich nur den Unteroffizieren und einfachen Soldaten. Heeresverwalter, Militärunternehmer, Kurfürsten-Könige und das Offizierkorps tauchen lediglich am Rande auf. Bewusst schreibt Kroll keine Geschichte des sächsischen Heeres, sondern beschränkt sich auf das Universum der "kleinen Leute".
Mit seltener Dichte und Tiefenschärfe rekonstruiert er das Typische der "Lebenswelten" von Unteroffizieren und Mannschaften einer Hauptarmee des Alten Reiches. Die Untersuchung beginnt 1728 mit den Heeresreformen August des Starken und endet 1796 mit dem Rückzug Sachsens aus der Ersten Koalition. In den Hauptkapiteln "Werbung und Rekrutierung", "Dienstalltag und Lebenswelten im Frieden", "Kriegserleben und Kriegserfahrung" sowie "Desertion und andere Verweigerungshaltungen" entfaltet sich ein gewaltiges, ungemein farbiges, durchweg faszinierendes Panorama: Es geht um Krankheit, Verwundung und Versorgung, um Feldlager, Manöver und Märsche, um Militärmusik, Aberglaube und Magie, um Heiraten und wilde Ehen, um Räuber, Prostituierte, Feldprediger und Geisteskranke, um Witwen, Waisen und Bettler, um Festungshaft, Selbstverstümmelung, Scheinerschießungen und Selbstmord, um Vaterlandsliebe und Gottesfurcht, um Armee und Aufklärung, vor allem jedoch um das Erleben, Ausüben, Erleiden und das Deuten von Gewalt. Solche Wege zur kursächsischen Armee, die durch den Preußenbann der Forschung lange Zeit verstellt worden sind, erkundet Kroll als Pionier. Denn obwohl die Neue Militärgeschichte viele zusätzliche Felder erschlossen hat, sind ausgerechnet Feldzugs-, Kampf- und Gewalterfahrungen im Zeitalter der Vernunft bisher weitgehend im Dunkeln geblieben.
Doch Expeditionen, wie Kroll sie nun auch Richtung Kursachsen unternimmt, drohen an zwei Steilwänden zu scheitern. Erstens: Welche Quellen sollen eine soziale Gruppe zum Sprechen zwingen, die der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht angehörte und überaus selten Briefe, Tagebücher oder Autobiografien verfasst hat? Zweitens: Warum eigentlich müssen wir erfahren, wie es vor etwa zweihundertfünfzig Jahren um den Friedensalltag oder die Gewalterlebnisse im Unterbau einer Mittelmachtarmee bestellt war, die von ihren Kurfürsten mit verblüffender Regelmäßigkeit an die Seite der Kriegsverlierer geführt worden ist?
Krolls methodischer Teil fällt entsprechend gewissenhaft aus. Auch auf der Wegstrecke wird das Rüstzeug stets aufs Neue überprüft. Das verlangsamt die 589-Seiten-Reise zuweilen über Gebühr. Wer übrigens erklärt, wohltuend offen, er verwende den allseits beliebten Diskurs-Begriff lediglich als Synonym für "Erörterung", "Debatte" oder "Diskussion" (29), könnte eigentlich auf ihn verzichten und damit hoffentlich zahlreiche Nachahmer finden. Sorgfältiges Absichern ist in so schwierigem Gelände aber grundsätzlich geboten. Überzeugend gelingt der Nachweis, wie neben Reglements, Edikten und Verordnungen auch eine quellenkritische Kombination aus Flugschriften, Bittgesuchen, Verhörprotokollen, Predigten, Gesangbüchern, Gedichten und Musterungslisten den "kleinen Leuten" eine Stimme leihen kann. Die Darstellung wird unterlegt mit fünfundzwanzig Tabellen, etwa zu Fragen der sozialen Herkunft von Soldatenfrauen (234) oder zu der aufschlussreichen Verschränkung von Desertionsraten und Operationsgeschichte (548 ff.). Jeder Preußenforscher, der schon durch Kriegsverluste des Potsdamer Heeresarchivs behindert worden ist, wird ins Staunen geraten. Dass Kroll zum Beispiel eine Liste von Unteroffizieren und Soldaten heranziehen kann, die sich im Revolutionskrieg persönlich ausgezeichnet haben (413), ist an sich schon bemerkenswert; vor allem aber widerlegen solche Funde jene zählebige Tirailleurlegende, die nur den Revolutionssoldaten Kampfgeist zugesteht und für deren Gegner das Zerrbild eines in die Schlacht geprügelten Tyrannensklaven zeichnet. Schlussendlich kann Kroll aus einem vielfältigen Korpus schöpfen, erarbeitet insbesondere im Dresdener Hauptstaatsarchiv. Immense Quellennähe ist das Gütesiegel dieser Arbeit. Damit hat Kroll die erste Steilwand bezwungen.
Seine Hauptfrage indessen nimmt Forschungen von Peter Burschel auf. Dieser hatte behauptet, dass aus dem gewitzten Landsknecht des 16. Jahrhunderts durch innermilitärische Prozesse der Disziplinierung, Entrechtlichung und Entindividualisierung für das 18. Jahrhundert der Typus des Militärautomaten entstanden sei. Freilich zielten Burschels Forschungen auf das 16. und 17., nicht aber auf das 18. Jahrhundert, für das Burschel keine eigenen Untersuchungen anstellte, sondern nur den Forschungsstand des Jahres 1994 wiedergeben konnte - der allerdings seit Hans Bleckwenn schon damals nicht uneingeschränkt dem Bild des "Militärautomaten" entsprach. "War der Soldat des 18. Jahrhunderts", zweifelt nun auch Kroll, "tatsächlich ein rechtloser, entmündigter und gedemütigter Befehlsempfänger, [...] den seine Umwelt verachtete?" (19) Hauptsächlich verknüpft Kroll klassische Fragen nach den Ursachen sozialen Wandels mit denen der Historischen Kulturwissenschaft im Sinne von Rudolf Vierhaus. Kroll geht es darum, nach "Wertorientierungen und dem Selbstverständnis der Soldaten zu fragen und die Auswirkungen auf die soziale Praxis zu ermitteln" (28). Mit den Antworten soll die Passfähigkeit großer Deutungsangebote wie Sozialdisziplinierung (Oestreich), innermilitärische Disziplinierung (Burschel), soziale Militarisierung (Büsch) Verbürgerlichung des Militärs (Pröve) und Urbanisierung des Militärs (Gräf) überprüft werden. Mit solchen Fragestellungen ist auch die zweite Steilwand erklommen.
Das Bild vom sozial gebrandmarkten Fürstenbüttel hat die Forschung wenigstens für Preußen zwar längst ins Fabelreich verbannt; doch wie sehr auch in Sachsen das Sozialprestige einfacher Soldaten schon vor den Freiheitskriegen einer Wandlung unterlag, überrascht wahrhaftig. Es erfuhr, so Kroll, durch den Bayerischen Erbfolgekrieg erheblichen Zuwachs. Jenes Deutungsmuster vom patriotischen Heldentod, das sich während des Siebenjährigen Krieges in Preußen ausgeformt hatte, sprang nun auf Kursachsen über. Den Wendepunkt aber entdeckt Kroll im Krieg gegen die Revolution. So richteten Honoratioren bei der Rückkehr von Regimentern Benefizkonzerte aus, 1794 etwa in Zeitz, als die Soldaten mit der Ouvertüre aus Mozarts "Zauberflöte" empfangen wurden (375). Eindringlich schildert Kroll, wie Ratsherren, Gutsbesitzer, Kaufleute und Pfarrer ein Gefühl staatspatriotischer, sogar nationaler Zusammengehörigkeit beförderten und schließlich alle Bevölkerungsgruppen für ihre Truppen spendeten - eine Gold-gab-ich-für-Eisen-Haltung, die man bisher erst mit dem Jahr 1813 verbunden hat (370 ff.). Soldaten hingegen berührte diese Stimmung offenbar noch wenig. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Sachsen (1810) kann nach der Studie Krolls dennoch nicht länger als plötzlicher Einschnitt, sondern muss nunmehr als Meilenstein langfristiger Wandlungen beschrieben werden.
Krolls Untersuchungen zum Kriegsalltag rufen in Erinnerung, dass selbst die gezähmte Bellona eine Kriegsfurie blieb. Das Beutemachen etwa war grundsätzlich legal, obwohl immerhin gesetzlichen Regeln unterworfen. Beim Zusammenbruch der Magazinversorgung drohte allerdings nicht selten illegales "Marodieren" (387 f.), verbunden auch mit Gefahren für Leib und Leben der Bevölkerung. Letzteres blieb aber offenbar die Ausnahme, obwohl Kroll mit Blick auf Vergewaltigungen begründet von einer zeitspezifisch besonders hohen Dunkelziffer ausgeht (405 ff.). Die Analyse der Schlachterfahrungen (412 ff.) führt den Leser, anders etwa als bei John Keegan, nicht gleichsam in die Mitte eines Karrees, das von feindlichen Kürassieren umspült wird, sondern lässt nachvollziehen, wie Soldaten die extremen körperlich-seelischen Herausforderungen zu bewältigen suchten: durch den Glauben an Gottes Beistand vor allem.
Am Ende verwirft Kroll das Modell der Sozialdisziplinierung und schlägt auch das Deutungsangebot der innermilitärischen Disziplinierung aus: "Der kursächsische Staat war zu keiner Zeit des 18. Jahrhunderts in der Lage, eine durchgreifende und nachhaltige Disziplinierung seiner soldatischen Untertanen zu bewirken" (581). Die soldatischen Rechte hätten im 18. Jahrhundert nicht ab-, sondern eher zugenommen, bei Verboten eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit bestanden, karger Sold eine hohe geistig-soziale Beweglichkeit beim Kampf um den Lebensunterhalt erzwungen (1801 gab es in Potsdam übrigens Zuhälter in Uniform), ausgedehnter Urlaub die Verbindung mit der zivilen, meist ländlichen Welt und deren nichtmilitärischen Mentalitäten niemals abreißen lassen. Letzteres führt Kroll auch gegen die Vorstellungen einer Urbanisierung des Militärs, sozialen Militarisierung und Verbürgerlichung des Soldaten ins Feld. Freilich liegt die Vermutung nahe, Burschel habe die Brüche sehr stark, Kroll die Stetigkeiten leicht überbetont. Unterscheiden sich denn die Pikeniere Kurfürst Johann Georg I. tatsächlich in keinerlei Hinsicht von den Füsilieren König Friedrich Augusts I.?
Völlig zu Recht jedenfalls bedauert Kroll, dass keine sozial- und kulturgeschichtliche Gesamtdarstellung der kursächsischen Armee im 18. Jahrhundert vorliegt. Diese Lücke kann aber auf absehbare Zeit wohl nur ein Autor schließen, dem mit seinem "Baustein" schon jetzt eine beeindruckende, ganz und gar ungewöhnliche Forschungsleistung gelungen ist. Denn im Gebirge neue Routen zu erkunden, kann Kopf und Kragen kosten. Stefan Kroll hat dennoch mit großer Ausdauer ein Terrain erschlossen, das Anreize für weitere Expeditionen bietet. Umso verdienter, wenn solcher Wagemut belohnt wird: Seine Arbeit ist 2006 mit dem Werner-Hahlweg-Preis für Militärgeschichte und Wehrwissenschaften ausgezeichnet worden.
Olaf Jessen