Ulrich Pfarr: Franz Xaver Messerschmidt 1736-1783. Menschenbild und Selbstwahrnehmung (= Neue Frankfurter Forschungen zur Kunst; Bd. 2), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2006, 448 S., ISBN 978-3-7861-2525-9, EUR 78,00
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Die Bebilderung von kunsthistorischen Werken kann bisweilen signifikant sein. So auch im hier besprochenen Buch über Franz Xaver Messerschmidt. In lockerer Reihung werden neben dem Textfluss sämtliche "Charakterköpfe" des Franz Xaver Messerschmidt in durchnummerierter Folge abgebildet. Möglich ist das, weil Text und Bild in einem bisweilen emblematischen Verhältnis zueinander stehen, in welchem dieser durch jenes gedeutet und in seinem Sinngehalt erweitert wird und vice versa.
Bei einer kunsthistorischen Dissertation mag ein solches Verfahren überraschen. Doch die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Graduiertenkollegs "Psychische Energien bildender Kunst". Damit ist ein Ansatz bereits vorgezeichnet, der sich nicht auf die gängigen kunsthistorischen Methoden beschränkt, sondern diese bewusst und gewollt gegen die Psychologie hin ausweitet. Franz Xaver Messerschmidts im ausgehenden 18. Jahrhundert angefertigte Büsten, seine "Charakterköpfe", müssen hier als willkommene Untersuchungsobjekte erschienen sein, denn bereits die frühesten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit ihnen haben ihr Interpretationsinstrumentarium aus der Psychologie entlehnt. [1] Inzwischen allerdings hat sich das Spektrum möglicher Deutungen merklich erweitert. [2] Vor allem hat sich die Forschung von der Frage weg bewegt, ob Messerschmidt zu pathologisieren sei, hin zu Überlegungen nach einer ästhetischen Bewertung und Wertschätzung seiner Charakterköpfe.
Ulrich Pfarr versucht in seiner Dissertation die beiden Enden des gleichen Strickes wieder zu verbinden. Zentrales Werkzeug ist ihm dazu das Facial Action Coding System, das von Ekman und Friesen 1978 entwickelt wurde. [3] Mit dem System kann das Gesicht in einzelne Teile zerlegt und deren Anteil an einem konsistenten emotionalen Ausdruck bemessen werden. Der neutrale Gesichtsausdruck fungiert dabei als Action Unit(AU) O, von dem aus 44 Komponenten der Gesichtsmuskulatur weiter in ihrer emotionalen Bildungsfähigkeit beobachtet werden können. Das Resultat dieses Vorgehens muss freilich nun so komplex ausgefallen sein, dass eine entsprechende Liste von Pfarr gar nicht mehr vorgestellt wird.
Damit ist allerdings das Verständnis seiner Analyse einigermaßen erschwert, denn am Schluss seiner Überlegungen steht eine Tabelle, die die Kodierung der 54 Köpfe in Formeln zerlegt wie etwa (Kopf 10) AU 1+2+4+5+7+15+17+B22+T23+53 "Schnute". Gemeint ist damit, dass die einzelnen Partien der Köpfe jeweils emotional unterschiedlich agieren. Die Konsistenz der emotionalen Verfassung ist somit zweifelhaft. Einer gesonderten grafischen Darstellung ist im Weiteren zu entnehmen, dass etwa im Falle von Kopf 10 die obere Gesichtshälfte von Angst geprägt ist, die untere aber von Trauer und Ärger. Diesem Verfahren liegt allerdings eine in drei Hypothesen konkretisierte originär kunsthistorische Fragestellung zu Grunde (158): ob die Köpfe reale Emotionen wiedergeben, ob sie einem intersubjektiv nachvollziehbaren Ausdruck entsprechen oder ob sie sich davon entfernen.
Dieser Fragestellung geht der Autor im Folgenden vertiefend nach, wobei er den Stand aktueller Emotionsforschung zur Hilfe nimmt. Alle Teile des Gesichtes und die gängigen emotionalen Stimmungen wie Lachen, Trauer etc. werden abgetastet. Das Resultat ist, dass die Köpfe Messerschmidts - wie eben bereits angedeutet - in ihrer emotionalen Haltung nicht eben gerade konsistent sind, der Künstler mithin nicht auf reine Ebenbildlichkeit bedacht war, sondern zu durchaus freien künstlerischen Schöpfungen fand.
Dieser Mittelteil von Pfarrs Buch, wo sich der eben skizzierte Argumentationsgang findet, ist vom methodischen Ansatz originell und wird wohlmöglich nicht ohne Wirkung bleiben, aber er stellt nicht die beste Seite der vorliegenden Schrift dar. Die sprachliche Erfassung der Phänomene gleicht in Abschnitten frappant der um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert so beliebten Morelli'schen Methode, wo zwecks Händescheidung hier ein gezogenes Augenlid, dort ein Nasenrücken und schließlich das Ohrläppchen minuziös unter die Lupe genommen wurden. Doch das ganze Verfahren dient ja gerade, um gleichsam die Autonomie des Schöpfungsaktes von Messerschmidt hervorzuheben. Dessen früheste Pathologisierung durch den Aufklärer Friedrich Nicolai wird übrigens im einleitenden Teil einer sehr kritischen Prüfung unterzogen. Diese Prüfung fällt bisweilen - wiewohl brillant in den zeitgenössischen Kontext eingebettete - etwas verwirrend aus, denn an manchen Stellen entsteht der Eindruck, als mische sich hier die kritische Befragung der Quelle hinsichtlich der pathologischen Verfassung Messerschmidts mit einer Interpretation des Textes selbst. Gleichwohl bietet dieser Einstieg dem Verfasser die Gelegenheit, seine stupenden Kenntnisse der Quellenliteratur zur Pathognomik und Physiognomik im 18. Jahrhundert auszubreiten. Pfarr setzt sich darin vehement gegen wirkungsästhetische Ansätze der jüngeren Forschung zur Wehr, die mit Texten des 18. Jahrhunderts arbeitete. Das ist verständlich, denn nur durch die Disqualifikation der älteren ästhetischen Vorstellungen ist überhaupt die Anwendung des Facial Action Systems zu legitimieren.
Zu seiner - auch für den Leser sehr anregenden - Hochform läuft der Verfasser dort auf, wo er schließlich im dritten Teil des Buches einzelne Köpfe Messerschmidts als "Testfälle" analysiert. Hier sind Bild und Text auch unmittelbar aufeinander bezogen. Merkwürdigerweise kommt Pfarr dabei auch weitgehend ohne die eben gewonnenen Resultate des Facial Action Unit System aus. Über dessen zwar originelle, aber doch nicht unproblematische Anwendung im kunsthistorischen Felde wird man wohl doch nochmals vertieft nachdenken müssen. Als Fazit versucht Pfarr die Köpfe in eine Reihenfolge zu bringen. Im Scheitern dieser Suche kommt er zur Überlegung, ob es sich um eine frühe Serie handelt, ein Gedanke, der in jüngster Zeit auch nochmals aufgegriffen und vertieft wurde. [4]
Pfarrs Dissertation mag streckenweise nicht unproblematisch erscheinen, und der Leser müht sich auch redlich damit ab, aber als einer unter vielen Standpunkten in der Messerschmidt-Forschung hat sie nicht nur ihre Berechtigung, sondern auch einen Beitrag zu leisten. Die weitere Forschung wird erbringen, wieweit dieser oder andere Ansätze des oben genannten Graduiertenkollegs für die Kunstgeschichte eine nachhaltige Wirkung zeitigen.
Anmerkungen:
[1] Ernst Kries: Die Charakterköpfe des Franz Xaver Messerschmidt. Versuch einer historischen und psychologischen Deutung; in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlung in Wien, N.F. 6, 169-228.
[2] siehe etwa den Forschungsüberblick in Almut Krapf-Weiler: Rezeption des Werkes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; in: Michael Krapf: F. X. Messerschmidt; Ausstellungskatalog Wien, Belvedere 2002, 117-127; Maria Pötzl-Malikova: Zur aktuellen Situation in der Messerschmidt-Forschung. Anmerkungen zu einer Präsentation; in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 57/2, 253-264. Während Almut Krapf-Weiler die Forschung der vergangenen Jahre sehr offen präsentiert, ist der Blick von Pötzl-Malikova durch ihren notorisch positivistischen Ansatz geleitet.
[3] Paul Ekman und Wallace V. Friesen: The facial action coding system. A Technique for the Measurement of Facial Expression; Part one: Manual; Palo Alto 1978.
[4] Frank Matthias Kammel: Die Serie als System. Franz Xaver Messerschmidts "Charakterköpfe" und der Reihencharakter; in: Ausstellungskatalog "Die phantastischen Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt", Frankfurt Liebighaus 2006, 242-265.
Axel Christoph Gampp