Thomas Schwabach: Die Schwieren-Chronik aus Zons. Bemerkenswertes aus einer niederrheinischen Kleinstadt und ihrer Umgebung, 1733-1823 (= Veröffentlichungen des Kreisheimatbundes Neuss; Bd. 15), Dormagen-Zons: Kreisheimatbund Neuss 2005, 306 S., ISBN 978-3-9808017-9-9, EUR 12,00
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Bei der Schwieren-Chronik handelt es sich um die Aufzeichnungen zweier Küster, Vater und Sohn, aus dem niederrheinischen Zons, das linksrheinisch zwischen Köln und Düsseldorf gelegen ist. Der Historiker und Archivar Thomas Schwabach, der wohl beste Kenner der Lokalgeschichte dieses einst kurkölnischen Kleinstädtchens mit rund 1.000 Einwohnern um 1800, hat nun diese Quelle ediert. Dabei handelt es sich um einen bereits bekannten Part und ein weiteres, von ihm im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf aufgefundenes Manuskript. Der Edition vorgeschaltet ist ein zweiteiliger Vorspann: "Die Familie Schwieren und das Küsteramt" (15-27) und "Inhaltliche Bemerkungen zu den Aufzeichnungen" (27-38).
Die Zusammensetzung der Manuskripte ist auf den ersten Blick kompliziert und erschließt sich durch Schwabachs "editorische Bemerkungen" (38-40) erst an etwas entlegener Stelle. Die Chronik verteilt sich auf zwei Autographen, die jeweils von zwei Verfassern geführt wurden. Den Anfang machte der 1704 geborene Küster der Zonser Pfarrkirche, Johannes Peter Schwieren, der in einem Manuskript von 1733 bis zu seinem Tod 1775 Ereignisse von allgemeiner Bewandtnis festhielt. 1750, als Schwieren erstmals in den Zonser Rat gewählt wurde, legte er ein weiteres, ebenfalls bis zu seinem Todesjahr reichendes Manuskript an, das er zunächst der Dokumentation relevanter Ratsvorgänge vorbehielt. Ab 1757 verfiel er jedoch darauf, auch hier Dinge verstreuten Inhalts zu schildern. Nach dem Tod Johannes Peter Schwierens setzte sein 1753 geborener Sohn Johannes Hermann beide Manuskripte fort: Das erste knüpfte im Todesjahr des Vaters an und reichte bis 1796. Das zweite, bislang unbekannte Manuskript ließ er erst 1788 beginnen, aber bis 1823, drei Jahre vor seinem Tod, reichen. Hieraus ergibt sich also die Eigentümlichkeit, dass beide Schreiber jeweils einander überschneidende Darstellungen verfassten: Johannes Peter für den Zeitraum von 1750 bis 1775, Johannes Hermann von 1788 bis 1796.
Die Wiedergabe der Darstellungen folgt der materiellen Überlieferung insofern, als sie beide Hefte samt ihrer Einzelteile aneinander reiht (Autograph 1 von 1733 bis 1775 und 1775 bis 1796, Autograph 2 von 1750 bis 1775 und 1788 bis 1823). Alle Einträge sind vom Herausgeber aber nach Tagesdaten durchgehend von 1 bis 1177 nummeriert. Auch die Konkordanz im Anhang (225-234) folgt der Anordnung der Autographen, dient damit als Sortierungshilfe mit Blick auf die (insgesamt aber kaum zu Buche schlagenden) chronologischen Unregelmäßigkeiten im Verlauf der Monate, Wochen und Tage. Diese Vorgehensweise, die mit einer recht konservativen formalen Textbehandlung korreliert, ist editionstechnisch sicherlich vorbildlich, was aus der Sicht der Nutzerinnen und Nutzer aber insofern durch einen gewissen Nachteil erkauft wird, als der zeitliche Zusammenhang zerrissen wird. Allerdings bietet Schwabach in einem weiteren Anhang (203-224) chronologisch geordnete "Ausgewählte Einträge in hochdeutscher Übertragung", die die Orientierung durchaus erleichtern. Die Auflösung der Manuskriptordnung zugunsten einer linearen zeitlichen Folge wäre sicherlich ein starker editorischer Eingriff gewesen, der zu Lasten der Eigenart der Verfasser gegangen wäre. Somit stellt sich auch im Licht dieses letzten Endes wohl unumgänglichen Editionsverfahrens die Frage, ob und inwiefern sich das Profil der Chronisten in ihren Notaten niederschlägt, sei es im Sinne selbstreferenzieller Bezüge, durch die Wahl der Themen oder die Dichte, Art und Weise der Eintragungen.
Über Fragen nach dem Schreibanlass lässt sich nur spekulieren, da keiner der beiden Schwieren hierauf eingeht. Den Ausschlag gab sicher die Familientradition, denn, so Schwabach (15), schon Johannes Peter Schwierens Vater habe "Familienereignisse" festgehalten. Dieser Aspekt wäre allerdings zu vertiefen gewesen, weil die Chronisten genau dies nicht taten: So heirateten beide Schreiber zweimal, und beide verloren zu eigenen Lebzeiten ihre Ehefrauen durch Tod. Doch nur Johannes Peter erwähnt, dass seine zweite Frau, die Mutter Johannes Hermanns, 1773 durch einen Sturz von der Treppe verstarb (Nr. 471). Darüber hinaus erfährt man rein gar nichts über die familiären Verhältnisse, über die Kinder, über die Haushaltsführung, überdies auch nichts Nennenswertes über das nachbarschaftliche Milieu, über Bekannte, Freunde und Verwandte. Weder Vater noch Sohn können mit ihren Niederschriften also memoriale Zwecke im Sinne der Darlegung einer vorbildlichen Lebensführung verfolgt haben.
Warum schrieben die Schwieren also? Einen Anknüpfungspunkt bietet womöglich die Tatsache, dass beide Verfasser vom Kölner Domkapitel als Küster zur Abhaltung von Schulunterricht verpflichtet waren und Johannes Hermann auch in französischer Zeit einer Knabenschule vorstand (16). Beide werden sich folglich als gebildete, da schriftkundige Leute verstanden und für die quasi halbamtliche Führung einer Ortschronik prädestiniert gehalten haben. Deren Inhalt ist bei aller Vielfalt der Themen konsequent auf lokal bzw. regionale Ereignisgeschichte beschränkt: Im Vordergrund stehen Aspekte im Zuständigkeitsbereich des Küsteramtes, Beobachtungen über das Wetter, die oft prekären Rheinüberschwemmungen, Land- und Viehwirtschaft, kriminelle Vorfälle, Kriege und Truppendurchzüge u.a.m. Entsprechend verweist das vom älteren Schwieren als "Annotatio, was durch das Jahr geschehet und sich zugetragen hat [...]" bezeichnete erste Manuskript (das zweite ist nicht betitelt) auf den konventionellen, chronikalischen Charakter der Niederschriften.
Waren die Formulierung von Persönlichem oder gar Reflexionen nicht die Absicht der Verfasser, so dürfte jegliche Abstraktion auch außerhalb ihres intellektuellen Horizonts gelegen haben. Mag Johannes Peter auch zu Zeitungen gegriffen haben (22), so muss man Schwabachs Einschätzung beipflichten, dass sein Gesichtskreis eng auf die Verhältnisse in Zons begrenzt war. Als Ratsherr über insgesamt 24 Jahre war er immerhin Teil der lokalen Öffentlichkeit, während sein Sohn dieses Amt nie erlangen sollte. Johannes Peters ursprüngliches Vorhaben, die Ereignisse im Rat zu dokumentieren, zeigt, dass er ein aufmerksamer Beobachter der in seiner unmittelbaren Umgebung vonstatten gehenden Dinge war. Aus seinen ausführlichen Beschreibungen der Streitigkeiten zwischen Bürgerschaft und Schöffen 1770 und 1771 (157-172 und 174-175 in Teil 2 der Chronik), in die er selbst verwickelt war, ist zu schließen, dass er sich in seiner Niederschrift zumindest implizit ins rechte Licht zu rücken gedachte. Dabei tritt Johann Peter Schwieren, so Schwabach, dem Leser als "ausgeprägter Vernunftmensch" entgegen (22).
Mit allzu großen Erwartungen darf man diese Charakterisierung freilich nicht verbinden. Noch weniger gilt dies in Bezug auf den jüngeren Schwieren, der sich als ein eher schlichter Geist zu erkennen gibt. Seine Darlegung der Vorgänge in französischer Zeit ist selbst hinsichtlich der konkreten herrschafts- und kirchenpolitischen Folgen für Zons und seine eigene Arbeit als Küster äußerst oberflächlich und lückenhaft und reicht somit an anderweitig überlieferte zeitgenössische Chroniken der Region wie das Tagebuch des Dormagener Kaufmanns Johann Peter Delhoven nicht heran. Schwieren nämlich richtet sein Augenmerk fast ausschließlich auf die militärischen Vorgänge, deren Opfer er 1795 selbst wurde, als er nur knapp dem Tod entging: Ein von ihm nicht identifizierter Soldat fügte ihm sieben Schussverletzungen zu - "in Meinung ich wär ein Geistlicher" (Nr. 504).
Die unterschiedliche Qualität der beiden Teile der Chronik macht sich auch anhand der Dichte der Eintragungen bemerkbar, die sich aufgrund der vom Herausgeber nur angedeuteten Verluste (14) aber nicht exakt beziffern lässt: Nimmt man nur den Überlieferungsstand zum Maßstab, dann brachte es Johannes auf 1.006 Nummern in 43 Jahren (durchschnittlich ca. 24 pro Jahr), sein Sohn kam in 48 Jahren nur auf 171 (im Schnitt ca. 3,5 jährlich). 1785 und 1792 besteht eine offenbar nicht durch den Verlust von Seiten bedingte Berichtslücke (100 bzw. 178), die man als besonders schmerzlich ansehen muss.
Im Wesentlichen bestätigt die Edition somit das schon in der älteren Forschung gezeichnete Bild von der Beschaulichkeit des Lebens im katholischen Krummstabland Kurköln, überdies vom beschränkten Horizont seiner ländlich-kleinbürgerlichen Bevölkerung. Die große Geschichte findet hier keinen Niederschlag, aufgeklärter Diskurs so wenig wie territorialpatriotisches Beharren. Die Chroniken besitzen ihre Authentizität vielmehr in der Schilderung alltäglicher Begebenheiten, deren Wert sich eher in der punktuellen als in der systematischen Heranziehung erschließt.
Es liegt demnach in der Natur der Quellen selbst begründet, wenn der Herausgeber sein Interesse in erster Linie darauf richtet, "Bemerkenswertes" aus Zons zu reportieren. Darüber hinaus gehende Betrachtungen dürften die Chroniken, die ja nicht einmal im großzügigsten Sinne als Ego-Dokumente erscheinen, nicht am Maßstab der Individualisierung messen. Gerade weil sich aber in ihnen wie in vielen ähnlichen Niederschriften 'einfacher Leute' der Frühen Neuzeit eine gleichsam subtile, da unreflektierte Schreibkultur spiegelt, hätte man sich von ihrer Kommentierung mehr Aufmerksamkeit in puncto Textgenese und Quellenwert wünschen können. Die reduzierte Fokussierung auf den orts- bzw. heimatgeschichtlichen Rahmen vergibt somit die Chance, die Schwieren-Chronik(en) im übergeordneten historischen bzw. historiographischen Kontext fruchtbar zu machen.
Stephan Laux