Rezension über:

Corine Defrance / Ulrich Pfeil (Hgg.): Der Élyséevertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 - 1963 - 2003 (= Pariser Historische Studien; Bd. 71), München: Oldenbourg 2005, 291 S., ISBN 978-3-486-57678-8, EUR 24,80
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Rezension von:
Tim Geiger
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Tim Geiger: Rezension von: Corine Defrance / Ulrich Pfeil (Hgg.): Der Élyséevertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 - 1963 - 2003, München: Oldenbourg 2005, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 6 [15.06.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/06/9199.html


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Corine Defrance / Ulrich Pfeil (Hgg.): Der Élyséevertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945 - 1963 - 2003

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Am 22. Januar 2003 begingen die französische Nationalversammlung und der Deutsche Bundestag den 40. Jahrestag des Vertrags "über die deutsch-französische Zusammenarbeit" mit einer historisch einmaligen gemeinsamen Sitzung in Versailles. Den Jubiläumsfeierlichkeiten für den Élysée-Vertrag ist auch der vorliegende Tagungsband eines bilanzierenden Kolloquiums zu verdanken, das am 19./20. Januar 2003 in Paris stattfand. Die 14 Autoren sind ausgewiesene Experten der deutsch-französischen Beziehungen, etablierte Zeithistoriker bzw. Angehörige einer nachrückenden Forschergeneration, die hier die Essenz ihrer beachtenswerten, meist erst vor Kurzem vorgelegten Monografien präsentieren. Einleitend verorten die Herausgeber Ulrich Pfeil und Corinne Defrance das "deutsch-französische Epochenjahr" (11) 1963 differenziert und überzeugend in der Systemkonkurrenz des Kalten Krieges, im blockinternen Beziehungsgeflecht sowie den innenpolitischen Spannungsfeldern. Sie formulieren zudem übergeordnete Leitfragen, etwa nach dem Zäsurcharakter des Élysée-Vertrags für den langfristigen Annäherungsprozess oder nach Triebkräften und Akteuren der Versöhnung. Damit erteilen sie einem verkürzenden Bilateralismus ebenso eine Absage wie einer rein gouvernemental-persönlichkeitszentrierten Politikgeschichte, die der Bedeutung soziokultureller "forces profondes" nur unzureichend Rechnung trägt.

Anschließend skizzieren Hans-Peter Schwarz und Jacques Bariéty den Weg zum Élysée-Vertrag. Bariéty blendet dafür bis zum Schumanplan zurück, während Schwarz das Paradoxon akzentuiert, dass der inzwischen so gerühmte Vertrag zunächst angesichts massiver nationaler wie internationaler Kritik als "Totgeburt" galt und wegen der vom Bundestag eingefügten, de Gaulles Intentionen diametral entgegengesetzten atlantischen Präambel einen veritablen Fehlstart erlebte. Trotz der prägnanten Darlegung drängt sich dem Leser allerdings die Frage auf, ob mit dem traditionalistischen Ansatz, die Entwicklung beider Länder getrennt zu referieren, nicht Chancen für eine weiterführende, integrale Gesamtbetrachtung jenseits der nationalstaatlichen Perspektive verpasst wurden. Dass zudem die edierten Akten des Partnerstaates keine (belegte) Berücksichtigung finden, gemahnt, dass auch in der modernen Historiografie eine multinational-multiarchivische Forschung längst noch nicht selbstverständliche Praxis ist. Wen die Sprachbarriere an der Lektüre der Erinnerungen von Alain Peyrefitte hindert, wird indes Henri Ménudiers Beitrag schätzen, der anhand der Ausführungen zum Élysée-Vertrag den Quellenwert der Aufzeichnungen von de Gaulles langjährigem Informationsminister [1] unterstreicht.

In der zweiten Sektion leuchtet Ulrich Lappenküper den Weg des deutsch-französischen Tandems von 1963 bis 1982 aus: Nach Vertragsschluss, insbesondere nach Adenauers Abgang, kühlten sich die bilateralen Beziehungen aufgrund der unterschiedlichen Politikkonzepte de Gaulles und der atlantisch orientierten Bundesregierung rapide ab. In der Großen Koalition blieb die rhetorisch eifrig zelebrierte Wiederannäherung letztlich ohne Substanz; auch Bundeskanzler Brandt und Präsident Pompidou fanden keinen Zugang zueinander. Erst das "couple" Giscard d'Estaing und Helmut Schmidt gelangte zu sachlicher wie persönlicher Übereinstimmung und gab der "Bonn(e) Entente" neuen Schwung. Auch im Bereich der Verteidigung gelang, wie Florence Gauzy nachweist, erst seit den 1980er-Jahren ein Ausbruch aus der politisch-strategischen Sackgasse. Gleichwohl blieben selbst diese Ergebnisse weit hinter den ehrgeizigen Intentionen des Vertrags zurück.

Weit erfolgreicher verlief die Zusammenarbeit in Jugend- und Erziehungsfragen. Zwar scheiterten alle Bemühungen, die Dominanz der englischen Sprache zu überwinden, doch sorgte, wie Ansgar Baumann kenntnisreich belegt, vor allem das neu geschaffene Deutsch-Französische Jugendwerk für eine deutliche Intensivierung des Besuchsaustauschs. Wie auch die rapide Zunahme von Städtepartnerschaften belegt, hatte der Élysee-Vertrag für zivilgesellschaftliche Kontakte keine konstituierende, wohl aber eine intensivierende, katalytische Funktion. Dass ausgerechnet das erfolgreichste Feld, die Kulturbeziehungen, keinen expliziten Eingang in das Abkommen fand, geht Defrance zufolge vor allem auf mangelnde Bundeskompetenzen angesichts der Kulturhoheit der Länder zurück, aber auch auf administrative Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem französischen Außen- und Kulturministerium. In ähnlicher Weise war die Ausklammerung der Wirtschaft primär der Rücksichtnahme auf die EWG, aber auch Adenauers Abneigung gegen eine Einbeziehung von Wirtschaftsminister Erhard, seinem ungeliebten Nachfolger, geschuldet (Andreas Wilkens). Dass dabei spätestens seit Mitte der 1950er-Jahre zwischen deutschen und französischen Industrieverbänden ein dichtes Netz institutionalisierter Kontakte bestand, legt Werner Bührer überzeugend dar, während Manfred Bock und Ulrich Pfeil in ihrer Analyse der personellen, strukturellen und ideellen Verflechtungen zivilgesellschaftlicher Kräfte die bedeutsame transnationale Mittlerrolle kulturpolitischer Akteure wie Alfred Grosser oder Joseph Rovan in Erinnerung rufen.

Abschließend skizzieren Colette Mazzucelli und der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher die Bedeutung des Élysée-Vertrags für den weiteren Prozess der europäischen Einigung. Innovativer ist Robert Franks Ansatz, das Erinnern und Feiern des Vertragsabschlusses im Laufe der vergangenen 40 Jahre zu untersuchen und dabei dem Versuch nachzuspüren, einen gemeinsamen Gedächtnisort zu konstruieren.

Eine Bilanz des Bandes fällt zwiespältig aus, da quellengesättigte Beiträge neben anderen stehen, die auf Sekundärliteratur beruhen oder auf einen Anmerkungsapparat ganz verzichten. Mancher Aktenfund wie der Notenwechsel zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik zum Élysée-Vertrag im Frühjahr 1963 (18 f., 216) liegt veröffentlicht vor - z. B. in den "Dokumenten zur Deutschlandpolitik", die in der Bibliografie indes ebenso fehlen wie zentrale Editionen wie die "Documents Diplomatiques Françaises" und die "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland". Bedauerlich ist zudem, dass zwar der Élysée-Vertrag abgedruckt wurde, nicht aber die Präambel. Auch haben sich vermeidbare Nachlässigkeiten eingeschlichen: Der 1963 als Bundesfinanzminister ausgewiesene Heinz Starke bekleidete dieses Amt nur 1961/62 (59), Staatssekretär des Bundeskanzleramts war 1964 nicht mehr Hans Globke, sondern Ludger Westrick etc. Gleichwohl ist der Band ein nützliches Kompendium, das einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand bietet und eindrucksvoll die Bedeutung der Zivilgesellschaft unterstreicht, die der von den Regierungen Frankreichs und der Bundesrepublik intendierten Annäherung erst zu erfülltem Leben und Beständigkeit verholfen hat.


Anmerkung:

[1] Vgl. Alain Peyrefitte: C'était de Gaulle. Bd. 1: La France redevient la France, Paris 1994; Bd. 2: La France reprend sa place dans le monde, Paris 1997; Bd. 3: Tout le monde a besoin d'une France qui marche, Paris 2000.

Tim Geiger