Rezension über:

Alexander Gallus (Hg.): Deutsche Zäsuren. Systemwechsel seit 1806, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 336 S., ISBN 978-3-412-30305-1, EUR 34,90
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Rezension von:
Matthias Stickler
Institut für Geschichte, Bayerische Julius-Maximilians-Universität, Würzburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Stickler: Rezension von: Alexander Gallus (Hg.): Deutsche Zäsuren. Systemwechsel seit 1806, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 6 [15.06.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/06/9831.html


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Alexander Gallus (Hg.): Deutsche Zäsuren

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Wenn in Sonntagsreden von Politikern immer noch gerne die Rede davon ist, dass Deutschland ein schwieriges Vaterland sei, so hängt dieser mittlerweile zum Gemeinplatz herabgesunkene Befund v. a. mit den vielfältigen Brüchen zusammen, die die deutsche Geschichte seit dem Untergang des Alten Reiches im Jahr 1806 kennzeichnen. Während nationale Meistererzählungen, die für die moderne deutsche Geschichte in ihrer Gesamtheit bis jetzt ein Desiderat darstellen, gerne Kontinuitäten herausstellen, sei es in Gestalt des so genannten (meist negativ konnotierten) Sonderwegs oder durch Berufung auf Traditionen, die als vorbildhaft und langfristig prägend eingestuft werden, nimmt der vorliegende Sammelband bewusst die durch Diskontinuitäten gekennzeichneten historischen Zäsuren in den Blick. Angeregt ist diese innovative Perspektive durch die Ergebnisse der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung, doch beschränkt sich das Erkenntnisinteresse von Herausgeber und Autoren nicht lediglich auf Systemwechsel von autoritären bzw. totalitären Ordnungen hin zu demokratischen, wie sie sich etwa im Europa des späten 20. Jahrhunderts vielfältig vollzogen (z. B. die Transición in Spanien nach dem Tode Francos oder der Zusammenbruch des realen Sozialismus zwischen 1989 und 1991), sondern greift zeitlich weiter aus. Hauptkriterium für die Aufnahme der Fallbeispiele in den Band war für die beteiligten Wissenschaftler der "erfolgreiche Systemwechsel", was die Nachvollziehbarkeit der Auswahl insofern transparent macht, als es sich hierbei, anders als bei "Umbrüchen", "Wendepunkten", "Scheidewegen" oder "Revolutionen", um eine vergleichsweise eindeutige Zuschreibung handelt.

Es handelt es sich hierbei, worauf der Herausgeber Alexander Gallus (Rostock) in seiner Einführung zu Recht verweist, um eine spezifisch politikgeschichtliche Herangehensweise, die sich als legitime Ergänzung zu alternativen sozioökonomischen, kulturgeschichtlichen oder internationalen Perspektiven versteht. Beleuchtet werden die behandelten Zäsuren keineswegs nur in ihrem engeren historisch-politischen Kontext, sondern es wird vielmehr die Vor-, Nach- und Wirkungsgeschichte einbezogen, sodass auf diese Weise eine die einschneidenden Systemwechsel und Kontinuitätsbrüche in den Mittelpunkt der Betrachtung stellende Gesamtgeschichte Deutschlands der letzten 200 Jahre entstanden ist.

Im ersten Beitrag beschäftigt sich Peter März, Direktor der Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildung, mit "Einschnitten und Eigenheiten" der deutschen Geschichte und schlägt hierbei in einer Art umgekehrten Chronologie einen weiten Bogen von der Gegenwart zurück ins Mittelalter. Er arbeitet hierbei in besonderer Weise die vormodernen Grundlagen der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und deren Bedeutung für die weitere Entwicklung heraus.

Mit dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches beschäftigt sich der zweite Beitrag von Hans-Christof Kraus (München): Er zeichnet den seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich langsam vollziehenden Zerfall dieses schon von vielen Zeitgenossen mit Befremden betrachteten Staatsgebildes nach, dem nach 1806 eine ebenso langwierige Neuordnung der deutschen Mitte Europas folgte. Vor diesem Hintergrund spricht Kraus nur mit Vorsicht von einem Systemwechsel, da der Systembegriff auf die Reichsverfassungsordnung nur bedingt anwendbar und zudem deren Funktionsfähigkeit im Jahr 1806 bereits nicht mehr gegeben gewesen sei. Eher skeptisch beurteilt Kraus die Fortentwicklungsfähigkeit des Deutschen Bundes, dessen restaurativer Charakter für ihn deutlich überwiegt.

Wolfram Siemann (München) widmet seinen Beitrag dem Prozess der Schaffung des ersten deutschen Nationalstaats im Jahr 1871 und verweist hierbei v. a. auf die Bedeutung der schon lange vor diesem Datum einsetzenden, faktisch kleindeutsch orientierten Integrationsmechanismen innerhalb Deutschlands. Gleichzeitig spricht er sich aber für eine intensivere Würdigung des Deutschen Bundes als Vorläufer des Kaiserreichs bzw. eine größere Berücksichtigung der Bedeutung der Habsburgermonarchie wie des Dritten Deutschlands für die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts aus und damit gegen allzu teleologische Interpretationen der deutschen Geschichte in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts, die diese gleichsam auf die natürliche Vorgeschichte der kleindeutschen Reichsgründung reduziert. Dieses Plädoyer ist v. a. deshalb wichtig, weil es die Offenheit des historischen Prozesses in Rechnung stellt und einer allzu statischen und damit ahistorischen Vorstellung von Systemwechseln entgegenwirkt.

Eine differenzierte Betrachtungsweise fordert auch Alexander Gallus in seinem Beitrag über die deutsche Revolution des Jahres 1918. Diese will er nicht einfach als Regime-Kollaps in Folge der sich abzeichnenden Niederlage verstanden wissen, sondern verweist vielmehr auf den schon früher einsetzenden Legitimitätsverfall des politischen Systems des Kaiserreichs, den die politisch Handelnden vergeblich durch die "Oktoberreformen" des Jahres 1918 einzudämmen suchten. Vor allzu eindimensionalen Sichtweisen warnt Gallus auch mit Blick auf die Weimarer Republik, deren Geschichte er keineswegs als Scheitern ohne Alternative verstanden wissen will.

Mit der Begründung des "Dritten Reiches" beschäftigt sich Hans-Ulrich Thamer (Münster), wobei er insbesondere die quasi revolutionäre Umgestaltung der Weimarer Republik in einen totalitären Führerstaat innerhalb kürzester Zeit herausarbeitet. Den damit verbundenen Systemwechsel und Kontinuitätsbruch versuchten die neuen Machthaber durch Inszenierungen wie den "Tag von Potsdam" (21. März 1933) zu kaschieren. Die "Machtergreifung" deutet Thamer insofern als "ambivalenten Prozeß, der Tradition und Revolution miteinander verband und dessen Auflösungs- und Zerstörungspotentiale sowie radikale Brüche sich hinter einer Fassade der scheinbaren Kontinuität und des schönen Scheins verbargen." (205).

Der deutschen Teilung und der "doppelten Staatsgründung" widmet sich der Beitrag von Udo Wengst (München / Regensburg). Es geht ihm hierbei v. a. darum, in knapper Form zentrale Aspekte der Wirkungsgeschichte der beispiellos tiefen, keineswegs nur die deutsche, sondern auch die europäische Geschichte kennzeichnenden, Zäsur von 1945/49 in beiden deutschen Staaten, welche sich bekanntlich als einzig legitime Antwort auf das verbrecherische NS-System betrachteten, aufzuzeigen.

Werner Müller (Rostock) behandelt schließlich die friedliche Revolution in der DDR 1989/90 und verweist hier insbesondere auf die Schlüsselrolle Michail Gorbatschows, ohne dessen Reformpolitik und Verzicht auf die Anwendung der Breschnew-Doktrin die DDR-Opposition nie die systemstürzende Kraft hätte entwickeln können, die schließlich zum Kollaps der DDR führte. In diesem Zusammenhang ist für ihn von besonderer Bedeutung, dass die DDR "nie eine autochthone deutsche Ordnung, sondern in entscheidendem Maße eine 'importierte' Diktatur" (246) war, deren Schicksal unauflöslich mit dem der östlichen Vormacht verbunden war.

Den Abschluss bildet eine Untersuchung von Eckhard Jesse (Chemnitz), in der dieser aus primär politikwissenschaftlicher Perspektive den Zäsuren und Neuanfängen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts nachspürt und damit einen Bogen zum Einleitungsbeitrag von Gallus schlägt. Auch Jesse plädiert für eine Historiografie, die die Offenheit der geschichtlichen Entwicklung anerkennt und spricht sich gerade vor dem Hintergrund der Zäsuren der deutschen Geschichte der letzten 200 Jahre für einen nicht nur negativ fixierten, gelasseneren Blick sowohl in die Vergangenheit wie in die Zukunft aus.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich bei dem vorliegenden Band um einen originellen Beitrag zum Jubiläumsjahr 2006 handelt, da er das Schlüsseljahr 1806 im besten Sinne des Wortes historisiert, indem er es in den Kontext der deutschen und europäischen Geschichte der Neuzeit setzt. Vielfach wird zu Recht beklagt, dass das Geschichtsbewußtsein in Deutschland allzu sehr auf das 20. Jahrhundert fixiert ist, die "deutschen Zäsuren" vermögen hier zweifellos Abhilfe zu schaffen. Dem Band sind deshalb viele Leser, nicht nur in der Fachwelt, zu wünschen.

Matthias Stickler