Frederick Weinstein: Aufzeichnungen aus dem Versteck. Erlebnisse eines polnischen Juden 1939-1946. Hrsg. und mit einem Kommentar versehen von Barbara Schieb und Martina Voigt. Aus dem Polnischen übersetzt von Jolanta Woźniak-Kreutzer, Berlin: Lukas Verlag 2006, 578 S., ISBN 978-3-936872-70-5, EUR 29,80
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Johannes Rogalla von Bieberstein: "Jüdischer Bolschewismus". Mythos und Realität. Mit einem Vorwort von Ernst Nolte, Dresden: Edition Antaios 2002
Cornelia Eisler: Verwaltete Erinnerung - symbolische Politik. Die Heimatsammlungen der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Fryderyk Winnykamień war ein findiger und tatkräftiger junger Mann, der sich nicht leicht entmutigen ließ. Schon damit besaß er gute Voraussetzungen im jüdischen Überlebenskampf während der nationalsozialistischen Besatzung Polens. Hinzu kam, dass ihm das Glück mehrfach zur Seite stand und Familienangehörige in vielen Fällen weiterhalfen. 1943/44 verbrachte er mit seinem Vater Leopold Winnykamień im Schutz der angenommenen "arischen" Identität seiner Mutter lange Monate in einem Versteck auf der "arischen Seite" Warschaus. Dort verfasste er seinen ungewöhnlich gehaltvollen, detaillierten und sprachgewandten Erinnerungsbericht über sein Erleben von Krieg und Besatzung vom Sommer 1939 bis zum 21. Juli 1942 - dem Tag vor dem Beginn der Deportationen nach Treblinka. An diesen Textteil schließen sich Fragmente täglicher Aufzeichnungen aus dem Ghetto von Warschau von Juni 1942 bis Februar 1943 und aus dem Stadtteil Wola bis zum Beginn des (national-)polnischen Aufstands im August 1944 an. 1945 konnte er seine Aufzeichnungen aus den Trümmern Warschaus unversehrt bergen, und so ist auch ihr Überdauern ein großer Glücksfall. Winnykamień, der sich später Frederick Weinstein nannte, nahm sie bei seiner Auswanderung in die USA mit.
1922 geboren und in Łódź aufgewachsen, versuchte Fryderyk mit seinen Eltern und zwei Schwestern dem enormen Verfolgungsdruck unter der deutschen Verwaltung durch die Flucht nach Warschau Ende November 1939 zu entkommen. Dort fand er sich fürs erste in relativer Freiheit wieder, verdingte sich im Rahmen des Zwangsarbeitssystems in verschiedenen Beschäftigungen. Er hielt Kontakt mit seinen Eltern, die wegen der Hoffnung auf bessere Verdienstmöglichkeiten für den als Zahnarzt tätigen Vater nach Otwock, einen Kurort bei Warschau, umgezogen war. Schließlich entfloh der Verfasser erneut den Verfolgungsorganen, indem er sich im Oktober 1940 nach Gniewoszów begab, wohin die Eltern zwischenzeitlich umgezogen waren. 60 km von Radom entfernt am Rande des gleichnamigen Distrikts unweit der Weichsel gelegen, erschien der beschauliche Ort dem Gehetzten - auf den ersten Blick - wie eine Oase des Friedens. Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Noch den Neujahrstag 1942 begrüßte die Familie "sorglos und im Wohlstand [...], ja, wir ahnten das kommende Unheil nicht einmal" (204). Doch ein halbes Jahr später wurde auch die tiefste Provinz von der "Aktion Reinhard" ereilt. Wie manch Anderer ging Winnykamień zurück nach Warschau, weil er sich nun im Judenghetto sicherer fühlte. Hier reifte dann der Entschluss, das Überleben jenseits der Ghettomauern zu versuchen.
Winnykamień, der nach sozialer Gerechtigkeit dürstete und der seine Hoffnungen auf die Sowjetunion setzte, verstand sich als Kommunist (193). Die Deutschen, die er aufrichtig hasst und deren Verbrechen er ein ums andere Mal schildert, bezeichnet er oft mit den damals gebräuchlichen Schimpfnamen (Germanen, Schwaben, Barbaren, Hunnen). In den Polen sah er - von wenigen Ausnahmen abgesehen - reaktionäre und kollaborationswillige Antisemiten, die angesichts der Judenverfolgung Genugtuung empfanden und begierig waren, davon zu profitieren. Nach seiner Auswanderung ist er nie mehr dorthin gereist.
Der Verfasser stellt auch die Konflikte innerhalb der jüdischen Bevölkerung dar. Sie waren zum Teil Resultat der Heterogenität innerhalb der polnischen Judenheit, in der im westlichen Sinn Assimilierte mit einer großen Masse von den Traditionen Verhafteten zusammenlebten. Eindrücklich ist insbesondere seine Schilderung der Auseinandersetzungen zwischen dem Repräsentanten der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe in Gniewoszów (seinem Vater) und dem Judenrat an dieser inneren Peripherie (199-204). Wie sich hieran zeigt, war die Fürsorgetätigkeit für die unaufhörlich herbeiströmenden mittellosen und hungernden Flüchtlinge vor Ort stets von Korruption bedroht.
Nach seiner Überfahrt nach New York kümmerte sich der Verfasser jahrzehntelang kaum mehr um seine Aufzeichnungen, bis Barbara Schieb ihn dazu bewegen konnte, sie zur Übersetzung und Veröffentlichung freizugeben. Zusammen mit Martina Voigt hat sie den Text mit einer Einleitung und mit einem ganz ausführlichen Kommentar versehen, welche ihn zum gegenwärtigen Forschungsstand erläuternd in Beziehung setzen. Als ein weiterer glücklicher Umstand muss zudem die Tatsache gelten, dass der Verfasser für Nachfragen zur Verfügung stand und zur Klärung mancher Unklarheiten und Ungereimtheiten beitragen konnte. Allein die Anmerkungen zum Erinnerungsbericht füllen 105 eng bedruckte Seiten (380-484). Da es bis jetzt keine monografische Gesamtdarstellung des nationalsozialistischen Judenmordes in Polen gibt, erforderte dies eine aufwändige Recherchearbeit in der Fachliteratur und in Archiven. Dabei wird augenfällig, wie weit sich mittlerweile die editorische Praxis von den Gepflogenheiten der 1990er Jahre entfernt hat, als der Leser mit den Bekenntnissen der Verfasser(innen) von Tagebüchern und Erinnerungen aus der Zeit des Judenmordes weitgehend allein gelassen wurde. [1] Indes ist hier manche Einzelheit zu korrigieren. So ist auf Seite 12 nicht die "erste", sondern die Zweite Polnische Republik gemeint, wurde das "Seuchensperrgebiet" in Warschau nicht erst im März 1940, sondern schon im November 1939 abgesperrt (431). Die Behauptung, Hitlers Vernichtungskrieg habe sich in gleicher Intensität gegen Juden, Kommunisten und die "Slawen" gerichtet (445), ist haltlos, denn dann hätte NS-Deutschland nicht über Jahre so eng mit Bulgarien, Kroatien, der Slowakei und - von 1939 bis Mitte 1941 - selbst mit Russland zusammengearbeitet. Eine "National-Demokratische Partei Polens" (426) gab es in den Zwischenkriegsjahren nicht, auch wenn man in der Literatur immer wieder auf diesen Begriff stößt: Die Parteien, die sich auf die Nationaldemokratie, auf polnischen Nationalismus und Antisemitismus beriefen, hatten andere, wechselnde Namen. Die Feststellung, der - bislang meist überschätzte - Anteil der NS-Besatzungsbehörden an den Judenpogromen vom März 1940 in Warschau sei "nicht hinreichend erforscht" (427), überrascht. [2] Naczelna Rada Opiekuńcza (NRO) müsste auf Deutsch als "Oberster Fürsorgerat" bezeichnet werden (453).
Winnykamieńs handschriftlich auf Polnisch verfasster Text ist in ein flüssiges Deutsch übersetzt worden. Anhand von eingeschobenen Faksimileseiten kann sich der Leser auch ein Bild vom Aussehen und Wortlaut des Originals verschaffen. Nur an wenigen Stellen sind mir ungenaue oder stilistisch unschöne Wendungen aufgefallen, etwa, wo polnische Ausdrücke stehen geblieben sind (46 Dekade, 82 Megaphon [in der Bedeutung Lautsprecher], 183 Jargon [d.h. das Jiddische], sowie einige Orts- und Landschaftsnamen wie 176f. Lwów [Lemberg] und Powiśle [das "Land an der Weichsel"]). Unpassend erscheint, dass - entgegen dem Bekenntnis zur Texttreue - stellenweise Namen von polnischen Akteuren, deren Verhalten der Verfasser kritisiert, zu Monogrammen anonymisiert wurden. Manchmal verwandelten sich - wie das Faksimile ausweist (162) - Winnykamieńs Ausrufezeichen in schlichte Punkte.
Diese Einzelkritik soll aber keinesfalls den Blick darauf verstellen, dass die Herausgeberinnen neue editorische Maßstäbe setzen. Insoweit wäre zu wünschen, dass ein vergleichbares Maß an Sorgfalt auch anderen Tagebüchern und Berichten zugute käme, die ebenso viel Beachtung beanspruchen können, hierzulande aber immer noch unbekannt sind. [3] Doch von einem schlüssigen editorischen Unternehmen, welches nach dem Vorbild der Reihe "Holocaust Library" solch außergewöhnliche jüdische Zeugnisse über den NS-Judenmord zugänglich machen würde, sind wir - so scheint es - immer noch ein gutes Stück entfernt.
Anmerkungen:
[1] Siehe meine Sammelbesprechung von 17 Zeugenberichten, die Mitte der 1990er Jahre erschienen, in Aschkenas 8 (1998), 226-248.
[2] Die diesbezügliche Untersuchung von Tomasz Szarota scheint nicht bekannt zu sein: U progu zagłady. Zajścia antyżydowskie i pogromy w okupowanej Europie. Warszawa, Paryż, Amsterdam, Antwerpia, Kowno [An der Schwelle zur Judenvernichtung. Antijüdische Ausschreitungen und Pogrome im besetzten Europa. Warschau, Paris, Amsterdam, Antwerpen, Kaunas], Warschau 2000.
[3] Ich denke hier etwa an die Berichte von Leon Najberg, Ostatni powstańcy getta [Die letzten Aufständischen des Ghettos], Warschau 1993, von Marian Berland, Dni długie jak wieki [Tage wie die Ewigkeit], Warschau 1992, oder von Edward Reicher, W ostrym świetle dnia. Dziennik żydowskiego lekarza 1939-1945 [Im grellen Tageslicht. Tagebuch eines jüdischen Arztes], hrsg. von Renata Jabłońska, London 1989, das bislang nur in französischer Übersetzung vorliegt.
Klaus-Peter Friedrich