Richard van Dülmen (Hg.): Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, 557 S., ISBN 978-3-596-15760-0, EUR 13,90
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Das "Fischer Lexikon Geschichte" hat selbst eine lange Geschichte vorzuweisen. Die erste Ausgabe erschien 1961. Herausgeber war der frisch habilitierte Waldemar Besson (1929-1971), Schüler von Hans Rothfels in Tübingen und gerade auf den Lehrstuhl für Politikwissenschaft in Erlangen berufen. Rothfels (1891-1976), der 1934 seinen Königsberger Lehrstuhl verloren hatte und 1939 in die USA emigriert war, schrieb ein Vorwort dazu. Besson und Rothfels stehen von ihrer Herkunft her für eine konservative Geschichtsschreibung, für die der Bezug der Geschichts- zur Politikwissenschaft konstitutiv war. In den historischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der beginnenden 1960er Jahre, die von der Schuldfrage an der Entfesselung des Ersten Weltkriegs über die Kontroversen um das Ende der Weimarer Republik bis zu einer ersten Aufarbeitung des Dritten Reichs (Eichmann-Prozess) reichten, nahm das Lexikon einen bewusst politikwissenschaftlichen Standpunkt ein.
Anders die Neuausgabe. Als Herausgeber figuriert diesmal kein Zeithistoriker, sondern ein Spezialist für die Geschichte der Frühen Neuzeit. Richard van Dülmen (1937-2004) konnte das Lexikon noch kurz vor seinem Tod vollenden. Entsprechend der Schwerpunkte seiner wissenschaftlichen Arbeit "steht die sozial- und kulturhistorische Problemaufarbeitung historischer Prozesse im Vordergrund" (9). Auch werden nicht nur die Neuzeit und Zeitgeschichte, sondern die Entwicklung seit der Antike berücksichtigt sowie in eine europäische und außereuropäische Perspektive eingebunden.
In drei Teilen gehen der Herausgeber und die 20 Autoren diese Zielstellung an. Vier Artikel stellen Grundlagen, Methoden und Disziplinen der Geschichtswissenschaft vor. Neben Geschichtstheorie (Jörn Rüsen) und politischer Geschichte (Hans-Ulrich Thamer) sind es die neueren Ansätze, denen viel Raum gewährt wird: die Kulturgeschichte und historische Anthropologie (Otto Ulbricht) sowie die sozialgeschichtlichen Ansätze mit Schwerpunkten auf Geschlechter- und Gesellschaftsgeschichte (Benjamin Ziemann). Mit diesen vier Beiträgen stellt das Lexikon einen guten Überblick über die aktuellen Forschungsansätze bereit, ohne sich jedoch in Einzelheiten zu verlieren.
Fünfzehn Artikel über "Historische Grundbegriffe" folgen. Die Wandlungen der Geschichtswissenschaft seit dem ersten Erscheinen des Lexikons spiegeln sich darin sehr gut wider. Klassische Themen wie die Beiträge zur Arbeiterbewegung (Klaus Tenfelde), zum Adel (Ludolf Kuchenbuch), zu Bauern- (Peter Blickle) und Bürgertum (Dieter Hein) dürfen nicht fehlen. Sie geben einen konzisen Überblick über den Wandel dieser Bevölkerungsschichten. Neu ist ein Artikel über Familie, in den Andreas Gestrich wertvolle Informationen über die Geschichte der Mentalitäten und über die Biografieforschung einfließen lässt. Ebenfalls neu ist der Beitrag von Clemens Zimmermann über "Kommunikation und Medien", in dem nicht nur die Forschung über Massenmedien wie Radio und Fernsehen thematisiert wird, sondern auch die Rückwirkung der Medien auf die historische Wissenschaft zur Sprache kommt. Die Artikel in diesem zweiten Teil versuchen die diachrone Darstellung mit Perspektiven der Forschung zu verbinden. Dadurch entstehen kurze thematische Kompendien, die eine gute Einführung in die entsprechenden Stichworte geben.
In die Epochen der Geschichte führt schließlich der dritte Teil ein. Die fünf Artikel orientieren sich an den klassischen Lehrstuhleinteilungen. Geboten wird jeweils ein Durchgang durch die historischen Entwicklungen und Fragestellungen der jeweiligen Epoche, immer verbunden mit aktuellen Forschungsdiskussionen und angereichert durch die Stichworte und Autoren, die helfen, sich im Meer der Publikationen zurecht zu finden. Dazu dient auch die wohltuend sparsame Bibliografie, gegliedert nach den einzelnen Artikeln. Das Personen- und Sachregister erweist sich als Link zwischen den Artikeln als recht hilfreich.
Die Neuauflage hat sich gelohnt. Das Fischer Lexikon Geschichte bietet Studierenden knappe Überblicke und Fortgeschrittenen eine gute Zusammenfassung der aktuellen Trends der Geschichtswissenschaft. In diesem Sinn ist es eine Momentaufnahme. So fällt bei der Rezension im Jahr 2007 auf, dass der in den letzten Jahren heftig diskutierte "visual / iconic turn" noch nicht aufgenommen wurde und sich auch im Sachregister nicht findet. An solchen Lücken zeigt sich aber auch die Lebendigkeit einer wissenschaftlichen Disziplin, die ein Lexikon der Geschichte selbst zu einem Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte werden lässt.
Joachim Schmiedl