Barbara Stambolis / Volker Jakob (Hgg.): Kriegskinder zwischen Hitlerjugend und Nachkriegsalltag. Fotografien von Walter Nies (= Aus westfälischen Bildsammlungen; Bd. 4), Münster: agenda 2006, 178 S., 140 Taf., ISBN 978-3-89688-290-5, EUR 19,95
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Anlässlich der 60jährigen Wiederkehr des Kriegsendes im Jahr 2005 hat vielfach die "Generation der Kriegskinder", also der zwischen 1930 und 1945 Geborenen, das Wort ergriffen. Das erklärt sich sicherlich nicht zuletzt daraus, dass ihr Status als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in dem Maße aufgewertet wird, wie die Zahl derjenigen, die den Krieg als Erwachsene miterlebt haben, kleiner wird. Hinzu kommt, dass sich der Blick der Öffentlichkeit sowie der Geschichtswissenschaft in jüngster Zeit immer stärker auf deutsche Kriegsopfer gerichtet hat. Auch die "Kriegskinder" werden zu dieser Opfergruppe gezählt, wenngleich zu beachten bleibt, dass sie "die Leidtragenden der Taten vor allem ihrer Väter" (10) waren, und ihr Leid nicht mit demjenigen der Opfer des Holocausts gleichzusetzen ist.
In diese Erinnerungskonjunktur der Generation der Kriegskinder fügt sich das hier rezensierte Buch ein. Der Band präsentiert 140 Fotografien von Kindern und Jugendlichen aus den Jahren 1939 bis 1952. Die Aufnahmen entstammen dem umfangreichen Bildarchiv des westfälischen Fotografen Walter Nies (*1918). Die Bilder aus der Kriegszeit sind im Auftrag der Nationalsozialisten entstanden. Sie zeigen in erster Linie Kinder und Jugendliche bei Aktivitäten der NS-Jugendorganisationen, bei Aufmärschen, Versammlungen, Sportereignissen, bei der Wehrertüchtigung, im Landjahr oder als Luftwaffenhelfer.
Auftragsarbeiten sind auch viele der Fotografien aus der Nachkriegszeit. Für eine katholische Hilfsorganisation fotografierte Nies nach 1945 in Flüchtlingslagern. Seine Aufnahmen dienten der Illustration von Spendenaufrufen. Die meisten der Bilder aus der Nachkriegszeit zeigen daher das Leben von Kindern und Jugendlichen in Sammellagern. Doch es sind auch Bilder von Jugendlichen in Ruinen oder bei Hamsterfahrten zu sehen oder aber Kinder bei der Weihnachtsbescherung in einer britischen Kaserne, in den Ferien im Erholungsheim oder in Jugendfreizeitlagern.
"Als Lese- und Wahrnehmungshilfe" sind den Fotografien in dem Band sechs kürzere Aufsätze vorangestellt, mit denen das Werk des Fotografen in den historischen Kontext eingeordnet, analysiert und erläutert werden soll. In der Einleitung und in zwei weiteren Aufsätzen schneiden Barbara Stambolis und Jakob Vogel eine Vielzahl von Themen an, die sowohl in der breiteren Öffentlichkeit wie auch in der historischen Forschung derzeit viel diskutiert werden. Die Beiträge gehen unter anderem auf die Ideologisierung der Kriegsfotografie und auf ihren Verwendungszweck ein. Gefragt wird danach, was die Fotografien darstellen oder aber ausblenden. So weisen die Autoren darauf hin, dass auf keinem der Bilder Opfer des NS-Regimes zu sehen sind und viele der Aufnahmen den Eindruck einer "heilen" Alltagswelt erwecken, die nicht an Krieg denken lässt. Des Weiteren suchen die Aufsätze nach Brüchen und Kontinuitäten im Werk von Walter Nies, wobei in erster Linie der Übergang von der Kriegs- zur Nachkriegszeit in den Blick genommen wird.
Thematisiert wird überdies die Problematik von Kriegserinnerungen. Vor allem ein Beitrag von Barbara Stambolis zeigt die Vielfältigkeit und Gespaltenheit der Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit auf und fragt nach deren Stellenwert im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis. Zur Sprache kommen an dieser Stelle auch die oben skizzierte Erinnerungskonjunktur und die Opferproblematik.
Das Thema "Erinnerung" beleuchtet aus der Perspektive eines Psychologen auch Hartmut Radebold in seinem Beitrag. Er fragt, inwieweit die gezeigten Fotografien dabei helfen können, die Erlebnisse und Erinnerungen aus der Kriegszeit lebensgeschichtlich zu verarbeiten. Radebold gehört selbst der Generation der Kriegskinder an und exerziert in seinem "Selbsterfahrungsbericht" (29) exemplarisch durch, welche Assoziationen die Niesschen Aufnahmen wachrufen können. Der Autor formuliert einen Katalog von Fragen, die an die Bilder gestellt werden können, um sie für die persönliche Aufarbeitung eigener Erfahrungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit nutzbar zu machen. Die beiden abschließenden Aufsätze von Claudia Becker und Ralf Blank schildern die Biografie des Fotografen und bemühen sich um eine Einordnung in den historischen und speziell den lokalgeschichtlichen Kontext.
Im dem vom Kulturdezernenten des Landesverbandes Westfalen-Lippe verfassten Vorwort zu dem Buch heißt es, es seien "vor allem die Bilder selbst, die zu uns sprechen" (7). Dem widersprechen die Autorinnen und Autoren der Aufsätze zu Recht, denn ohne Erläuterung stehen wir den "Bildüberlieferungen merkwürdig hilflos gegenüber" (9), die Fotografien "erklären sich nicht selbst, sondern bedürfen der Interpretation" (11). Daher ist es bedauerlich, dass viele der Abbildungen fast oder gar gänzlich unkommentiert bleiben und so doch für sich selbst sprechen müssen und die Betrachterinnen und Betrachter im Gefühl der Hilflosigkeit belassen. Insgesamt lässt der Band eingehende Bildanalysen vermissen. Wenn im Textteil auf einzelne Fotografien eingegangen wird, sind es in der Regel nur einzelne Details oder Aspekte, die hervorgehoben werden. Vielleicht hätte es hier Abhilfe geschaffen, Kunsthistoriker in das Autorenteam aufzunehmen.
Nicht nur kunsthistorischer Rat, auch ein sorgfältigeres Lektorat wäre wünschenswert gewesen. Es ist eine traurige, aber wohl kaum einzudämmende Folge des akademischen Publikationsdrucks, dass Autoplagiate im Zeitalter des "Copy and Paste" Usus geworden sind. In ein und demselben Buch indes sollten sie nicht vorkommen. Dass im vorliegenden Band in verschiedenen Aufsätzen, aber nur mit wenigen Seiten Abstand, Textpassagen wörtlich wiederholt und Zitate doppelt gebracht werden, irritiert (zweifach auf 11/17, auf 16/25, 18/30 sowie auf 20/51).
Das ästhetisch ansprechend gestaltete "Bilder-Buch" (7) erhebt wohl nicht den Anspruch, einen wegweisenden Beitrag für die Forschung zu liefern. Vielmehr richtet es sich an ein breiteres Publikum. Einerseits wendet es sich an die Generation der Kriegskinder selbst, denen es beim Umgang mit ihren eigenen, teils traumatischen, Erinnerungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit helfen möchte. Andererseits setzt es sich zum Ziel, den Blick zu schulen und dazu anzuregen, die Fotografie aus der NS-Zeit kritisch zu hinterfragen. Im Hinblick auf die Nachgeborenen schließlich will das Buch dazu beitragen, den "im kommunikativen Gedächtnis aufbewahrten Erinnerungen an Kriegs- und Nachkriegszeit", die mit dem Aussterben der Zeitzeugen verloren gehen, "in unserem 'kulturellen Gedächtnis' des 21. Jahrhunderts einen Platz" (26) zu verleihen. Diese Ziele mag das Buch erreichen. Überdies macht es weiteren Forschungen einiges interessante Bildmaterial zugänglich.
Christine G. Krüger