Tobias Vogt: Untitled. Zur Karriere unbetitelter Kunst in der jüngsten Moderne, München: Wilhelm Fink 2006, 278 S., ISBN 978-3-7705-4239-0, EUR 39,90
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"Untitled", so eröffnet Tobias Vogt sein analog betiteltes Buch, "lautet der häufigste Namenseintrag in den Registern zeitgenössischer Kunst", der in seiner Funktion als Titel zudem ein "bedeutsames Paradoxon" darstelle (7). Dennoch sind die Genese und die Gründe für das Aufkommen dieses Titels bis dato nicht systematisch untersucht worden. Konsequent versteht der Autor seine Studie, die aus seiner mit dem Ernst-Reuter-Preis der Freien Universität Berlin ausgezeichneten Dissertation hervorgegangen ist, als einen ersten Beitrag zur "Diskussion um eine angemessene Methode zur Titel-Werk-Analyse" (8). Dieser ist ihm, so viel sei vorweggenommen, hervorragend gelungen.
Methodisch evident, gliedert sich das Buch nach einer konzisen Einleitung (I), in der Vogt eine sorgfältige Differenzierung zwischen "absichtslos unbetitelten, absichtlich unbetitelten und Untitled betitelten Werken" (7) projiziert, in drei der Entwicklungsgeschichte folgende Analysekapitel. Im ersten über "Funktionen und Formen des Titels" (II) bündelt der Autor zunächst die wichtigsten Ergebnisse der sprachanalytischen Wissenschaften zur Titeltheorie (11-24), um diese für eine ebensolche "in der Kunstgeschichte brauchbar zu machen" (13). Dabei lautet Vogts zentrale These, dass "der abwesende Titel als Steigerung des Denotats zu denken" und "der bewusst gewählte Titel Untitled als Steigerung des Konnotats" (18) zu verstehen sei. Letzterer fungiere überdies als Unterscheidungskriterium zwischen einem "nicht anders benennbare[n] Kunstwerk" und einem "Gebrauchsgegenstand" (20-21). Für die Entwicklung einer kunstgeschichtlichen Titeltheorie seien ferner drei Aspekte der Chronologie zu berücksichtigen: 1. der Zeitpunkt der Betitelung, welche "die Vollendung des Werks besiegeln" könne und "zumeist am Übergang zwischen privater Produktion und öffentlicher Rezeption des Werks" (24) erfolgt sei; 2. der Titelgeber, der neben dem "signierenden Künstler" auch der "ausstellende Galerist, der Verleger des Katalogs oder der rezensierende Kritiker" sei könne (24); 3. der Rezeptionsverlauf, bei dem der zeitökonomischen Titellektüre zumeist Vorrang vor der intensiven Kunstbetrachtung gegeben werde (25). Daraus resultiere die Veränderbarkeit von Titeln, die in der Praxis teils nachträglich hinzugefügt, verbessert oder korrigiert worden seien, was zugleich zeige, "wie entscheidend der Titel für die diskursive Verhandlung des Kunstwerks" sei (25).
Anschließend konkretisiert Vogt den theoretischen Vorspann an zwei historisch entwickelten, kontrastierenden Beispielen: den "gegen unendlich" konnotierten Titel der Kunstwerke von Marcel Duchamp (26-46) und den der "gegen Null" konnotierten von Piet Mondrian (50-66). Beide Künstler hätten auf ihre Weise der im New York der 1940er-Jahre Einzug haltenden, "konzeptuell" geprägten Betitelungsstrategie den Weg geebnet, die in den 1960er-Jahren schließlich ins "paradoxe Untitled" gemündet sei (26): Duchamp durch ins Absurde gesteigerte poetische Titel, wie "La mariée mis à nu par ses célibataires, même (Le grand verre)", die zugleich Alles und Nichts zu sagen schienen (26). Und Mondrian durch seine "erstrebte Nichtbetitelung" von Kunstwerken (50), die sich in seinem weitgehenden Titelverzicht oder seiner Vergabe von tautologisch und daher redundant erscheinenden Titeln, wie "Composition" oder "Tableau", ausgedrückt habe (50, 58).
Im zweiten Analysekapitel (III) wendet sich Vogt dem "unbetitelten Werk 1940-1960" zu (73-172) und benennt zwei Hauptgründe für den in diesen Jahren zu beobachtenden Betitelungsverzicht, den er eng mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verknüpft sieht. Der erste bestehe in der geringen künstlerischen Öffentlichkeitswirkung gegen Ende der 1930er-Jahre, denn die Gemälde "blieben zu Lebzeiten der Maler unveröffentlicht und bedurften keiner diskursiv nachvollziehbaren, namentlichen Identifizierung" (75). Der zweite liege im künstlerisch-politischen Positionsbezug nach 1946. Die Maler, die einst in Peggy Guggenheims New Yorker Galerie ausgestellt hatten (Jackson Pollock, Mark Rothko, Clyfford Still) und sich damals für ihre "mythologischen und surrealistischen" Titelfindungen durch die "nach Amerika emigrierten, europäischen Avantgardisten" anregen ließen (75), hätten sich während des Krieges auf doppelte Weise von der europäischen Tradition abzugrenzen versucht: sowohl durch die Hinwendung zu großformatigen abstrakten Gemälden als auch durch deren "absichtliche Nichtbetitelung" (75).
Diese Entwicklung habe mit der "Benennung des Titelproblems" zwischen 1946 und 1950 eingesetzt, welche sich entweder in Metatiteln "wie Newmans The Name oder Reinhardts Direct Communication", oder in Nummerntiteln entsprechend "der Durchzählung der Exponate in einer Ausstellung oder einem Inventarisierungssystem der Künstler" manifestiert habe (96). Parallel sei in der aufgeflammten Diskussion um die "Theorie des Erhabenen", die Newman mit seiner Schrift "The Sublime Is Now" (1948) angeregt habe, der "Topos des Unsagbaren" als Hauptargument für den eingeforderten Titelverzicht angeführt worden (116). Noch ließ sich dieser aber nicht durchsetzen, denn der Kunstmarkt forderte nach Vogt seinen Tribut: Galerien- und erste Museumsausstellungen der neuen amerikanischen Malerei hätten parallel zum wachsenden öffentlichen Interesse beim "nationale[n] wie internationale[n] Feuilleton und bürgerliche[n] Publikum" auch "Erklärungsbedarf" geweckt, weshalb die Ausstellungsmacher den Exponaten wiederum "konnotative Titel" verliehen hätten (116).
Erst in den 1960er-Jahren - und bezeichnender Weise im Kontext der aufkommenden Minimal Art - sollte die Betitelungsstrategie der Künstler schließlich in das Paradoxon "Untitled" münden, dessen Werdegang der Autor im dritten und letzten Analysekapitel (IV) "Zum Untitled betitelten Werk 1950-1970" schildert (179-244). Vor allem zwei Kriterien seien für die Herausbildung dieses 'Titels' ausschlaggebend gewesen: zum einen das Interesse der Künstler an "Sprache und Sprachspielen" (223), das im Falle von Dan Flavin zur Wahl von "Ironie und Zitat in Titeln wie Untitled (to Barnett Newman)" geführt habe, und zum anderen der neue ästhetische Anspruch der Kunstwerke, die "entgegen einem Bildillusionismus den buchstäblichen Raum betonen und den Betrachter mit in die Werkkonzeption hineinnehmen sollten" (223). Damit "musste", so Vogt, "das Wandetikett samt Titel als unerwünschte buchstäbliche Grenzmarkierung im White Cube erscheinen. Untitled versprach, es erfolgreich zu überwinden" (223), denn: "Ob Untitled einen Titel darstellte, war Ansichtssache geworden" (252).
Ein "Ausblick" (V), in dem Vogt zuletzt Überlegungen zur "Medialität des Titels" anstellt (253), rundet die Darstellung mit folgendem Ergebnis ab: "Die Grenze zwischen Texten und Bildern in der Kunstgeschichte scheint dann als Übergang verständlich, wenn die Bildlichkeit von Texten zur Anschauung und zugleich Bilder zur Sprache kommen" (254). Mit seiner evidenten Gliederung, seiner plausiblen Argumentationsführung und seiner klugen Strukturierung des Buches, das jedes Analysekapitel mit einem kursorischen Themenüberblick einleitet, ist Vogt ein auf einem hohem intellektuellen Niveau verfasster Forschungsbeitrag gelungen, dem das gebührende wissenschaftliche Echo zu wünschen ist.
Marion Bornscheuer