Hans Ottomeyer / Jutta Götzmann / Ansgar Reiß (Hgg.): Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962-1806. Altes Reich und Neue Staaten 1495-1806. 29. Ausstellung des Europarates und Landesausstellung Sachsen-Anhalt, Dresden: Sandstein Verlag 2006, 2 Bde., 456 S. + 624 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-937602-67-7, EUR 98,00
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Jutta Götzmann (Hg.): Friedrich und Potsdam. Die Erfindung (s)einer Stadt, München: Hirmer 2012
Dirk Götschmann / Ansgar Reiß (Hgg.): Wissenschaft und Technik im Dienst von Mars und Bellona . Artillerie und Festungsbau im frühneuzeitlichen Europa, Regensburg: Schnell & Steiner 2013
Ansgar Reiß: Radikalismus und Exil. Gustav Struve und die Demokratie in Deutschland und Amerika, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004
Als Kaiser Franz II. am 6. August 1806 die Krone des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation niederlegte, fanden politische Strukturen ihr Ende, die die Geschichte Europas über fast 850 Jahre hinweg maßgeblich mitbestimmt hatten. Der 200. Jahrestag dieses Ereignisses war Anlass für die Ausstellung "Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806", die vom 28. August bis zum 10. Dezember 2006 gezeigt wurde. Das Kulturhistorische Museum Magdeburg präsentierte den ersten Abschnitt der Ausstellung, Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters, das Deutsche Historische Museum in Berlin den zweiten Teil, Altes Reich und neue Staaten 1495-1806. Zu beiden Ausstellungsteilen erschienen jeweils ein Katalog- und ein Essayband. An dieser Stelle interessieren die Begleitpublikationen zu eben jenem zweiten Teil der Ausstellung, in der chronologisch und thematisch ausgerichtete Abteilungen abwechselten. Sie haben ihren Niederschlag naturgemäß im Katalogband gefunden.
Ein Prolog "Zwischen den Zeiten" bildet die Brücke zwischen dem Magdeburger und dem Berliner Ausstellungsteil, wobei man den Wormser Landfrieden von 1495 als Zäsur wählte. Die fundamentalen Wandlungsprozesse der Jahre um 1500 werden vorgestellt und die Auswirkungen von Reformation und Humanismus auf das Reichsgefüge thematisiert. Eine lange Kaisergalerie liefert schließlich das chronologische Gerüst bis zum Ende des Alten Reiches: Von Maximilian I. bis Franz II. werden die Herrscherpersönlichkeiten im Porträt vorgestellt und wichtige Ereignisse ihrer Regierungszeit angesprochen. In der Person des Kaisers - so der Grundgedanke der Ausstellung - liegt auch in der Frühen Neuzeit noch das Zentrum des Reiches.
Drei Abteilungen durchbrechen die chronologische Folge: "Das Reich und seine Grenzen", "Körper und Glieder des Reiches" sowie "Das gelebte Reich". Wie stellte sich das Reich im Kartenbild dar? Wo lagen seine Grenzen? Welche Wappen und Symbole besaß es? Wie wurde es in der Reichspublizistik behandelt? Welche Rolle spielte es im europäischen Mächtekonzert? Wahl und Krönung eines Kaisers, Kurfürsten, Reichstag und Reichsstände, lehnrechtliche Bindungen, Reichsgerichtsbarkeit und kaiserliches Postwesen, Reichskreise und Reichsmilitär werden in ihrer Geschichte und Funktion angerissen, die Lebenswelten der Reichsfürsten, der Bürger der Reichsstädte und der Angehörigen der Reichskirche und des Deutschen Ordens, der Freien Herren und der Juden in ihrer politischen und kulturellen Bedeutung skizziert.
Zielsicher führen Ausstellung und Katalog auf "Das Ende des Reiches" hin: Der österreichisch-preußische Gegensatz, die Einflüsse der Französischen Revolution, die Niederlagen in den Koalitionskriegen, der Reichsdeputationshauptschluss und die Neuordnung Europas durch Napoleon werden zur unmittelbaren Vorgeschichte der Niederlegung der Kaiserkrone. Durch den Jahrestag bedingt, nimmt diese Abteilung überproportional viel Raum ein und bildet ein Scharnier zu den beiden letzten Abschnitten der Ausstellung, deren erster unter dem Titel "Staatsmodelle und Modellstaaten" die Entwicklung in einzelnen deutschen Staaten zwischen Reichsende und Wiener Kongress in den Blick nimmt. Eine Abteilung "Sehnsucht nach dem Reich - Des Reiches Herrlichkeit" verlängert die Erzählung über den Wiener Kongress hinaus weit in das 19. Jahrhundert hinein, versammelt Zeugnisse zu Mittelalterbegeisterung, Deutschtümelei und Reichsromantik und entlässt den Besucher mit der Frage: "Was geht das Reich uns heute an?" - eine Sammlung von Zitaten aus zwei Jahrhunderten.
Die Ausstellung hatte sich zum Ziel gesetzt, nicht nur Geschichte zu veranschaulichen, sondern zugleich ein Panorama der mitteleuropäischen Kunst und Kultur zu entfalten. In Magdeburg gelang dies besser als in Berlin, denn zur frühneuzeitlichen Geschichte des Reiches und seiner Nachfolgestaaten war aus kunsthistorischer Sicht keineswegs nur erste Qualität vertreten. Die Veranschaulichung historischen Geschehens oder einzelner Themen, die sich facettenartig zu einem Gesamtbild formen sollten, überwog hier rein ästhetische Ansprüche, wenn die Exponate auch mit Geschick gewählt waren und vielfältige Einblicke vermittelten. Die Dokumentation der Exponate im Ausstellungskatalog sorgt für die nötige Kontextualisierung.
Der in gleicher Aufmachung und Qualität erschienene Essayband geht auf ein Symposium zurück, das bereits am 3.-5. März 2005 am Deutschen Historischen Museum in Berlin veranstaltet wurde. Er spiegelt die Ordnung der Ausstellung dem gemäß nicht wider.
Eingeleitet durch Beiträge von Werner Heun zu aktuellen Positionen der Forschung und Wolfgang Burgdorf über die Wahrnehmung des Jahres 1806 durch Zeitgenossen, versammelt der Band Beiträge von 26 Autoren in sechs Abteilungen. Die Aufsätze von Alfred Kohler ("Kaiseridee" und "Reichsreform") und Helmut Neuhaus (Der Reichstag als Zentrum eines "handelnden Reiches") bilden den ersten Abschnitt "Strukturen und Funktionsweisen des Alten Reichs", der zweite Abschnitt über "Das politische System und die politische Kultur des Reiches" ist mit Beiträgen von Barbara Stollberg-Rilinger (Das Reich als Lehnssystem), Winfried Schulze (Das Reich und der Gemeine Mann), Dietmar Willoweit (Das Reich als Rechtssystem), Georg Schmidt (Das Reich und die deutsche Kulturnation) und abermals Werner Heun (Das Reich in Reichspublizistik und politischer Theorie) umfangreicher. Der dritte Abschnitt steht mit Aufsätzen von Heinz Schilling (Das Reich als Verteidigungs- und Friedensorganisation), Johannes Arndt (Deutsche Territorien im europäischen Mächtesystem), Ute Lotz-Heumann (Die deutsche Reformation und die Konfessionalität in Europa) und Michael North (Das Reich als Wirtschaftsraum in Europa) unter dem Oberbegriff "Das Reich und Europa".
Die Abschnitte IV und V sind vornehmlich kunsthistorischen Fragestellungen vorbehalten: Die Beiträge von Sven Lüken (Reichssymbolik und Reichsemblematik), Franz Kirchweger (Die Reichskleinodien in Nürnberg in der Frühen Neuzeit), Stephan Albrecht (Städtisches Selbstverständnis im Spiegel der neuzeitlichen Rathausikonographie) und Bernd Roeck (Die ästhetische Inszenierung des Reiches - Aspekte seiner frühneuzeitlichen Ikonographie) sind dem Kapitel "Zeichen des Reiches" zugeordnet, während sich unter der Überschrift "Die visuelle Präsenz der Kaiser im Reich" Beiträge von Harriet Rudolph (Kaiserliche Einzüge im Medium der Druckgraphik), Franz Matsche (Frühneuzeitliche Kaiserkrönungen und ihre Darstellung in der Kunst), Jutta Götzmann (Kaiserliche Legitimation im Bildnis), Johannes Erichsen (Kaisersäle, Kaiserzimmre) und Meinrad von Engelberg (Zur "Politischen Bedeutung des Deutschen Barock") wieder finden. Das Schlusskapitel befasst sich mit "Ende und Nachleben" des Alten Reiches: Anton Schindling (War das Scheitern des Alten Reiches unausweichlich?) und Uwe Puschner (Reichsromantik), Walter Demel mit einem Beitrag über Bayern unter Montgelas, Ina Ulrike Paul über Württemberg und Hans Ottomeyer über Westphalen sowie Hans-Werner Hahn (Neue Staatenwelt und Altes Reich 1806-1815) und Hans Ulrich Thamer (Das Heilige Römische Reich als politisches Argument im 19. und 20. Jahrhundert.) kommen hier zu Wort.
Die Begleitpublikationen zur Ausstellung sind sorgfältig lektoriert und bieten einen hervorragenden Fundus an Texten und Bildern, der geeignet ist, das Themenfeld umfassend zu erschließen. Insbesondere der Essayband gibt einen soliden Überblick über den Forschungsstand, zeichnet die Forschungsgeschichte in Ansätzen nach und präsentiert eine breite Palette von Forschungsfragen und Forschungskontroversen. Neben Grundsatzartikeln versammelt er auch eher randständige Beiträge; didaktische Vollständigkeit ist aber nicht angestrebt. Die differenzierte Neubewertung des Alten Reiches, die in den letzten Jahrzehnten mit so manchem Verdikt der kleindeutsch-borussischen Geschichtsschreibung aufgeräumt hat, wird hier einem großen Publikum vermittelt; der aktuelle Forschungskonsens für die nächsten Jahrzehnte festgeschrieben. Das Alte Reich der frühen Neuzeit erscheint nicht mehr als blasse Erinnerung an mittelalterliche Größe, die sich mit den modernen Vorstellungen von Nation und Staat nicht in Einklang bringen lässt, sondern präsentiert sich als erstaunlich dauerhafte und überlebensfähige Rechts-, Verteidigungs- und Friedensordnung. Sie garantierte einem Konglomerat aus Mächtigen und Mindermächtigen Stabilität und umfasste eine bemerkenswerte kulturelle und ethnische Vielfalt.
Die Ausstellungskuratoren werfen daher die Frage auf, inwiefern das Alte Reich als Verständnisfolie für Fragen der europäischen Einigung dienen könne - ein Ansatz, der die Schau erst zur "29. Europarats-Ausstellung" machte. Die Antwort auf diese Frage ließ sich der Ausstellung und lässt sich den Begleitpublikationen nur schwer entnehmen. Über die Vor- und Grußworte hinaus fand dieser Aspekt im Essayband kaum einen Niederschlag, im Katalogband füllt er gerade sechs Seiten, und sollte der Leser erwarten, das frühneuzeitliche Reich durchgängig in europäischen Dimensionen und Zusammenhängen betrachtet und bewertet zu sehen, so sieht er sich getäuscht. Im Mittelpunkt steht das Alte Reich in seinen Strukturen, stehen Herrschaft, Herrscher, Herrschafts- und Reichsrepräsentation. Fragen der sozialen Ordnung, der Alltagsgeschichte spielen dabei ebenfalls nur eine geringe Rolle. Forschungsgegenstand ist der Staat in seinen Institutionen; aus diesem Blickwinkel heraus ist das kulturgeschichtliche Panorama entwickelt - und es ist fraglos ein beachtliches!
Frank Pohle