Felix Escher / Hartmut Kühne (Hgg.): Die Wilsnackfahrt. Ein Wallfahrts- und Kommunikationszentrum Nord- und MItteleuropas im Spätmittelalter (= Europäische Wallfahrtsstudien; Bd. 2), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2006, 272 S., ISBN 978-3-631-54501-0, EUR 39,80
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Giancarlo Andenna / Mirko Breitenstein / Gert Melville (Hgg.): Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter. Akten des 3. Internationalen Kongresses des "Italienisch-deutschen Zentrums für Vergleichende Ordensgeschichte", Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2005
Der zweite Band der Europäischen Wallfahrtsstudien widmet sich einem speziellen Ort eucharistischer Frömmigkeit: dem brandenburgischen Wilsnack. Der schnelle Aufstieg Wilsnacks, wo das heilige Blut verehrt wurde, zu einem bedeutenden Pilgerzentrum ist in der Geschichte Brandenburgs singulär, denn kaum ein anderes Zentrum hat im späten Mittelalter eine so breite Resonanz gefunden. Auch im Zusammenhang der europäischen Wallfahrtsgeographie ist Wilsnack ein Sonderfall, lagen doch die wichtigeren Zentren eher im Süden denn im Norden Europas.
Die Studien zu diesem Ort waren seit dem 19. Jahrhundert von kunst- und baugeschichtlichen Fragen sowie frömmigkeitsgeschichtlichen Diskussionen bestimmt. Vor dem Hintergrund neuer archäologischer Ergebnisse und methodischer Zugriffsweisen der Pilgerforschung bietet der Band nun ein Ensemble von vielfältigen neuen Einsichten. Nachdem zur Zeit der DDR-Regierung die Forschungen zu Phänomenen wie Wilsnack fast völlig brach gelegen hatten, war es nötig, die vergleichenden Aspekte und die inzwischen erfolgten grundlegenden Studien zu anderen Pilgerzentren, aber auch zur brandenburgischen Landesgeschichte, in einführenden Bemerkungen vorzustellen. Diese schaffen die Basis, auf der die weiteren Artikel des Buches einzuordnen und zu bewerten sind.
Neben dem übergreifenden Beitrag von Heinz-Dieter Heimann, der als öffentlicher Vortrag in der Wallfahrtskirche von Bad Wilsnack gehalten wurde (21-39), bieten die meisten Aufsätze Regionalstudien, um zu ergründen, wie sehr das heilige Blut von Wilsnack in kultgeographischer Hinsicht ausgestrahlt hat. So werden die Gebiete Schlesien (Ewa Wółkiewicz), Polen, Litauen (Maria Starnawska), Livland (Maja Gąssowska), Hamburg und der pommerische Meersaum (Dietrich Kurze), Dithmarschen (Enno Bünz) einzeln vorgestellt. Diese Studien bieten wichtige Einzelbelege und zeigen, wie viel noch durch gezielte Untersuchungen in Archiven und durch systematische Quellendurchsicht an neuen Einsichten gewonnen werden kann. Allerdings sind die Überlieferungsverhältnisse in den besprochenen Gegenden vielfach so unterschiedlich, dass man wohl kaum zu tragfähigen Schlüssen in quantitativer Hinsicht kommen kann. Somit bleibt es ein Nachteil des Sammelbandes, dass die Ergebnisse zu kultgeographischen, prosopographischen und quantitativen Aspekten weder in einer Karte veranschaulicht, noch durch Register erschlossen werden.
Besondere Bedeutung gewann der Wilsnacker Kult für die Luxemburger, wie Jan Hrdina (41-63) deutlich macht. In den Jahren 1390-1405 wurde Wilsnack fast schon eine dynastische Wallfahrtsstätte der Luxemburger, bis in der Nachfolgezeit derselbe Ort durch die Kritik der Hussiten ein Symbol des törichten Glaubens wurde. Unterstreichen fast alle der verschiedenen Beiträge immer wieder die Bedeutung der Einführung des Fronleichnamsfestes, der Fronleichnamsprozessionen und der Entstehung eucharistischer Pilgerzentren, so bieten einige Studien auch Überlegungen zur theoretisch-theologischen Beurteilung der Fahrten nach Wilsnack. Klingen diese Bezüge schon im Beitrag von Jan Hrdina an, so beschäftigt sich Mateusz Kapustka (235-258) explizit mit theologischen Kontroversen sowie deren visuellen Konsequenzen. Dabei kann der Verfasser deutlich machen, in welchem Maße seit dem Ende des 15. Jahrhunderts auch antijüdische Argumente in die Kritik an Wilsnack einflossen, die als antijüdische Traditionen bei Luther weiterlebten. Die Forderungen an einen eucharistischen Kultort, wie sie Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert formulierte, wurden nach seiner Ansicht erst im 18. Jahrhundert visuell und theoretisch umgesetzt (256). Ähnliche Aspekte behandelt Krysztof Bracha, der die kritische Sicht des Pilgerortes im Werk des Kartäusers Jakob vom Paradies vorstellt. Auch wenn dieser Theologe eine ambivalente Position zum Pilgerzentrum einnahm, so dominieren eher kritische Töne, die auch in den entsprechenden Begrifflichkeiten (Miracula, Mirabilia) deutlich werden.
Materiellen Fragen wenden sich Alexander Krauß und Detlev von Olk zu, wenn sie die archäologischen Ergebnisse der sanierungsbegleitenden Untersuchungen vorstellen. Inzwischen ist es möglich, die Entstehungsgeschichte der Wilsnacker Wallfahrtskirche und der einzelnen Bauabschnitte ab 1384 genauer nachzuzeichnen. Eine zweite Wallfahrtskirche entstand am Ort wohl nach 1447, bis die Bautätigkeit 1520 weitgehend eingestellt wurde; erst 1591 dürfte die Westfassade begonnen worden sein. Stilistisch weist der Bau in die Nähe von Bauten in Stendal und in Tangermünde. Eine Sonderstellung nimmt der von Petr Hlaváček und Hartmut Kühne untersuchte sogenannte "Pilgerschuh von Wilsnack" ein. Nachdem Hartmut Kühne relativ ausführlich über die üblichen Formen von Exvotogaben und Objekten berichtet hat, wird der Pilgerschuh von Wilsnack durch den Schuhtechnologen Petr Hlaváček als ältester Typus eines Flexibelschuhes nachgewiesen, der aber nicht unbedingt als Pilgerschuh zu bezeichnen sei. Er gehörte wohl einem Kind im Alter von 6 bis 7 Jahren aus einer reicheren Familie.
Zwei Vergleichsstudien beschäftigen sich zum einen mit der Wunderblutkapelle in Beelitz, dessen Dokumentation zum Jahre 1247 eindeutig als zu früh und verfälscht nachgewiesen wird. Das allerdings der Ursprung in Beelitz auf ein Corporale verweist (231), wird meines Erachtens nicht eindeutig erwiesen. Wilhelm A. Eckhardt dekonstruiert die These von Kurt Köster, dass Gottsbüren das hessische Wilsnack gewesen sei. Hatte Köster noch unter anderem Pilgerzeichen als Argumente eingebracht, so kann der Verfasser mit Hilfe archivalischer Quellen über die Einnahmen zeigen, dass die Blütezeit von Gottsbüren im Wesentlichen in den Jahren 1334-1338 anzusetzen ist.
Schaut man auf das Inhaltsverzeichnis des Bandes, so werden die hier besprochenen Beiträge im Wesentlichen relativ wahllos nacheinander angeordnet. Hier hätte eine systematische Abfolge durchaus im Bereich des möglichen gelegen (räumliche Verbreitung, Baugeschichte und Realienkunde, theologische Auseinandersetzung, Vergleichsorte). Auch scheint die eigene Gestaltung der Druckvorlagen nicht immer in allem gelungen. Neben der insgesamt kleinen Schrift sind mehrfach die Seitenumbrüche zu bemängeln (vergleiche 226, 240, 251, 253), auch entspricht im Beitrag von Kapustka der Kolumnentitel nicht dem übrigen System.
Insgesamt wird aber ein breit gefächertes Spektrum von Ergebnissen vorgestellt, auf dem man weiter aufbauen kann. Der in der Einleitung skizzierte vielversprechende Neuansatz wird mit vielen der Beiträge eingelöst. Dabei hätte die auf Seite 19 angesprochene thematische Akzentverschiebung zuweilen noch in den Beiträgen etwas stärker aufgegriffen werden können. Die beiden Herausgeber stellen nämlich fest, dass die frühere Interpretation von Wilsnack als ein "vorreformatorisches Phänomen" nun eher einer Sichtweise gewichen ist, die "Kirchlichkeit und Frömmigkeit, die sich unter den Bedingungen des großen Abendländischen Schismas konstituierte", erkennen lässt.
Klaus Herbers