Rezension über:

Ariane Boltanski: Les Ducs de Nevers et l'Etat royal. Genèse d'un compromis (ca 1550 - ca 1600) (= Travaux d'Humanisme et Renaissance; Nr. CDXIX), Genève: Droz 2006, 584 S., ISBN 978-2-600-01022-1, EUR 110,00
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Rezension von:
Christian Kühner
Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Christian Kühner: Rezension von: Ariane Boltanski: Les Ducs de Nevers et l'Etat royal. Genèse d'un compromis (ca 1550 - ca 1600), Genève: Droz 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 9 [15.09.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/09/13298.html


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Ariane Boltanski: Les Ducs de Nevers et l'Etat royal

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Die Debatte um die Bildung des frühneuzeitlichen Staates greift traditionell oft auf Frankreich zurück, das als ein Paradebeispiel für Staatsbildung gilt. Eine der Hauptfragen ist das Verhältnis des hohen Adels zur Monarchie, als deren ausschließliches Projekt die Staatsbildung lange Zeit gesehen wurde. Dabei betonen Roland Mousnier und seine Schule stärker die Rolle der Treuebeziehungen innerhalb des Adels, Sharon Kettering und andere Patronageforscher die materiellen Austauschbeziehungen.

Ariane Boltanski wendet sich in ihrer Dissertation gegen die Grundannahme, der Hochadel habe der Staatsbildung grundsätzlich feindlich gegenübergestanden und sie entweder durch Revolte sabotiert oder durch die Einrichtung von Klientelnetzwerken innerhalb des Staatsapparates parasitär unterwandert. Sie arbeitet am Beispiel der Herzöge von Nevers heraus, dass der Monarch und ein hoher Adliger auch einen Kompromiss zum beiderseitigen Nutzen schließen konnten. Dabei geht es ihr nicht darum, eine neue Meistererzählung über Staatsbildung und Patronage in der Frühen Neuzeit zu etablieren; sie betont vielmehr die größere Vielfalt der möglichen Verhaltensweisen des Hochadels.

Die Studie umfasst den Zeitraum von etwa 1550 bis etwa 1600 und ist zentriert auf die Herrschaft von Louis de Gonzague als Herzog von Nevers (1565-1595). Das Buch gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil untersucht Boltanski die politischen und ökonomischen Grundlagen der Macht des Hauses Nevers. Als die Clèves-Linie der Herzöge von Nevers im Jahre 1564 ausstarb, verhinderte Karl IX. eine Heirat der Erbtochter mit einem der französischen Grands und erneuerte statt dessen die Nevers in ihrer Eigenschaft als princes étrangers, indem der Mantuaner Lodovico Gonzaga durch Einheirat Louis de Gonzague, Herzog von Nevers wurde. Da der König das Herzogtum als heimgefallenes Lehen auch hätte einziehen können, schuf er so ein hochadliges Haus, das seine schiere Existenz königlicher Intervention verdankte. Die Herzöge von Nevers stellten somit einen Sonderfall dar, dessen Charakteristika nicht ohne weiteres auf alle anderen hochadligen Häuser übertragen werden können - was von Ariane Boltanski aber auch nicht behauptet wird.

Das Hauptzentrum der Macht des Herzogs war das Nivernais, mit einem sekundären Zentrum in der Champagne, wo er die Grafschaft Rethel besaß; er war auch Gouverneur beider Provinzen. In beiden Regionen war oftmals unklar, ob der Herzog als königlicher Amtsträger oder als patrimonialer Herr handelte; "öffentliche" Herrschaft und "privates" Eigentum sind nicht klar zu trennen. Der Herzog übte darüber hinaus eine Reihe von delegierten königlichen Rechten aus. Gerade dass der Herzog zugleich Feudalherr und Repräsentant des Königs war, verlieh ihm eine Machtfülle, die einerseits weit über die eines "Brokers" königlicher Gaben (im Sinne Sharon Ketterings) hinausreichte, andererseits aber essentiell auf ein gutes Einvernehmen mit dem König angewiesen war.

Während auch bei vielen anderen Häusern die Ausgaben die Einnahmen überstiegen, war dies bei den Nevers in besonderem Ausmaß der Fall, so dass sie um 1560 vom Bankrott bedroht waren. Dass sie dennoch immer wieder Gläubiger fanden, lag nicht zuletzt an den Geldzuwendungen des Königs. Die Nevers investierten ihrerseits in königliche Renten. Längerfristig schichteten sie so in ihrer Einnahmenstruktur patrimoniale Abgaben in Richtung staatlicher Zuwendungen um, wodurch ihre Abhängigkeit vom Staat stieg.

Im zweiten Teil wird das Klientelnetzwerk der Nevers analysiert. Die Gonzague übernahmen die Klienten teils von den Clèves, teils brachten sie Italiener mit nach Frankreich. Dieses Netzwerk wurde durch interne Heiratsallianzen zu einem dauerhafteren Verbund als die stärker fluktuierenden Bürgerkriegsparteien. Die Unterscheidung von "Freunden" und "Klienten" nimmt Boltanski anhand des Grades der Abhängigkeit vor. Materiell wie symbolisch war das Netzwerk eine der Stützen der politischen Macht des Herzogs. Die Rhetorik der "affection" wird ebenfalls analysiert. Dabei betont Boltanski, dass interessegeleitete und affektive Elemente in diesen Beziehungen nicht im Widerspruch zueinander standen, sondern komplementär waren.

Viele Amtsträger der Nevers dienten gleichzeitig auch der Krone. Wenn Klienten oder ihre Nachkommen aus herzoglichen in königliche Dienste überwechselten, bedeutete das nicht ihre Abwanderung aus dem Nevers-Netzwerk, vielmehr wurden sie zu wichtigen Mittelsmännern zwischen König und Herzog. Dieses für beide Seiten vorteilhafte System der Machtausübung setzte aber Treue der Klienten zu König und Herzog und Königstreue des Herzogs voraus. Dass es die Religionskriege überlebte, erklärt Boltanski damit, dass keiner der Beteiligten sich einen Gewinn vom Aufstand versprach.

Da der Untersuchungszeitraum im Wesentlichen mit den Religionskriegen koinzidiert, ist der dritte Teil dem Verhalten der Nevers und ihrer Klienten in diesem Großkonflikt gewidmet. Im Gegensatz zu vielen anderen Grands verfasste oder autorisierte Louis de Gonzague ab den 1570er Jahren eine große Anzahl von Schriften. Das Ziel war dabei konstant: Wiederherstellung der politischen und religiösen Einheit von König und Volk innerhalb der universellen römischen Kirche. Die Schriften wurden vermutlich von einem Beraterstab von gelehrten Ghostwritern zumindest teilweise vorformuliert. Die Politik des Herzogs wurde von zwei Grundprinzipien geleitet, nämlich Königstreue und Katholizität. Daraus erwuchs eine vehemente Gegnerschaft zum Protestantismus, den der Herzog auch mit dem Streben nach einer republikanischen Ordnung nach Genfer Vorbild gleichsetzte (384).

Während bis zum Tod Heinrichs III. das Ziel des Herzogs ein Häretikerkreuzzug unter Führung des Königs war, entstand durch Heinrich IV. die Situation, dass Königstreue und die Forderung nach Katholizität der Monarchie in Widerspruch zueinander gerieten. Nach einer längeren Phase des Lavierens entschied Louis de Gonzague sich gegen den Beitritt zur Liga und für Heinrich IV. Fortan arbeitete er auf die Konversion des Königs hin. Der geplante Kreuzzug gegen die Häretiker wandelte sich somit zum spirituellen Kreuzzug für die Bekehrung des Königs (475 f.). Von ihr erhoffte sich der Herzog keinen politischen Frieden in währender Spaltung der Religion, sondern die religiöse Wiedervereinigung durch Konversion aller Protestanten.

Das Buch ist mit einem großzügig gestalteten Anhang versehen, der Genealogien sowie Illustrationen aus den Schriften aus dem Umkreis Louis de Gonzagues bietet. Gerade deshalb vermisst man aber zumindest eine Karte des Nivernais, vielleicht auch eine der Champagne. Die im Text häufig erwähnten Einzelheiten zur geographischen Ausdehnung der einzelnen Herrschaftsbezirke der Nevers erfordern detaillierteres Kartenmaterial, als die meisten Geschichtsatlanten es bieten.

Neben einer Fülle von Quellen verarbeitet die Autorin nicht nur die gängige französische, sondern auch die angelsächsische Literatur zum Thema. Italienischsprachiges Material wird ebenfalls, wenn auch in geringerem Umfang, herangezogen. Nicht zuletzt der intensive Dialog mit sozialwissenschaftlichen Theorien fällt positiv auf.

Boltanski gelingt es anhand dieser Fallstudie zu zeigen, dass die Krone keine lineare und auf lange Zeiträume angelegte Politik der systematischen Entmachtung des Adels verfolgte, sondern dass Kompromisse und von Fall zu Fall wechselnde Strategien eine viel größere Rolle spielten, als die Forschung bisher angenommen hat. Die klar geschriebene und materialreiche Untersuchung zeigt so die Geschichte des französischen Hochadels im 16. Jahrhundert in einem neuen Licht.

Christian Kühner