Jörg Später: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945 (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. IV), Göttingen: Wallstein 2003, 495 S., ISBN 978-3-89244-692-7, EUR 46,00
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Robert Vansittart (1881-1957), heute ein Name, an den sich nur noch Experten erinnern, war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der deutschen ebenso wie der britischen Öffentlichkeit ein Begriff: Vansittartismus stand gleichermaßen für die Traditionslinie antideutscher Außenpolitik im britischen Foreign Office wie für eine extreme Form der öffentlich artikulierten Germanophobie. Jörg Später nimmt in seinem auf einer Freiburger Dissertation basierenden Buch den Diplomaten und Publizisten Vansittart zum Ausgangspunkt einer breit angelegten Analyse von Debatten in der britischen Politik und Publizistik über Deutschland, die Deutschen und schließlich die Nationalsozialisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Späters Buch ist mithin weniger eine klassische Biographie als der Versuch, die Persönlichkeit und Wirkung Vansittarts in den historischen Kontext seiner Anhänger und Gegner sowie der allgemeinen Diskussionen um dessen Ansichten einzupassen.
Diese Konzeption des Buches ist einerseits eine Stärke, weil sie dem Autor die Option bietet, ein außerordentlich vielfältiges Panorama von Stimmen, Meinungen und Traditionslinien vorzuführen. Später gelingt dies auch mit beeindruckender Vielfalt.
Später gliedert seine Darstellung in sieben Kapitel, von denen eines über das "sozialistische Exil in London" rund ein Drittel des Buches ausmacht. Dieser Teil widmet sich zwar dem Generalthema "Streit um Deutsche und Nazis", Vansittart ist hier aber merklich an den Rand gerückt. Insofern ist das Buch eine Art um Vansittart gruppierte Stimmensammlung, die allerdings, es sei betont, als solche ihren Wert erweist.
Eine wichtige, perspektivisch erweiternde Dimension bietet Späters Abriss über die Imaginationen zum so genannten Nationalcharakter. Von David Hume bis Sigmund Freud, von den Propagandaschriften im Ersten Weltkrieg über die Diskussionen der Zwischenkriegszeit führt Später hier ein instruktives Panorama von Publikationen vor, die sich nicht nur mit dem "deutschen Charakter" beschäftigen. Dieser Überblick ist ein wichtiger Baustein, um Vansittarts Weltbild und Wirkung einordnen zu können. Später legt die Wurzeln des Diskurses frei, der Vansittart beeinflusste und auf den er popularisierend und verstärkend reagierte. Zugleich referiert Später ausführlich die kritischen Zeugnisse des "deutschen Charakters" von Hölderlin, Goethe und Heine bis zu Nietzsche und Foerster, die wiederum auch Vansittart beeinflussten. Vansittarts Held, wie der vieler anderer, war Nietzsche.
Mit guter Kenntnis der einschlägigen Publikationen porträtiert Später daneben die Deutschland und die Deutschen charakterisierenden Positionen von Henry Wickham Steed, Lewis Namier, A.J.P. Taylor, E.H. Carr, aber auch so heterogene Persönlichkeiten wie John Maynard Keynes, Henry Brailsford, Victor Gollancz oder Harold Laski. Später mischt hier die Quellen-Präsentation von deren Schriften mit einer Zusammenschau der durchaus überschaubaren Forschung. Zu dem wiederholt und ausführlich charakterisierten Frederick A. Voigt, den Später Vansittarts "Waffenbruder" nennt, liegen seit 1995 und 1999 zwei einschlägige Untersuchungen von Markus Huttner vor, deren Berücksichtigung Später ein noch differenzierteres Bild ermöglicht hätten.
Generell ordnet Später den Diplomaten und Publizisten Vansittart in eine fortlaufende Traditionslinie, die dieser schon aufnahm, als er seine Diplomaten-Karriere im Foreign Office 1903 als Jahrgangsbester begann. Später charakterisiert die Prägung des außenpolitischen Denkens unter Eyre Crowe. Schon Crowe war bekanntermaßen ein Verfechter deutschlandkritischer Politik, die er als eine notwendige Sicherung der britischen Interessen verstand. Später charakterisiert Vansittart, der an der Pariser Friedenskonferenz teilnahm, von 1920 bis 1924 als politischer Sekretär von Außenminister George Curzon und von 1928 bis 1930 in der Downing Street agierte, als Erben von Crowe und dessen außenpolitischer Linie. Der Erste Weltkrieg blieb für Vansittart zeitlebens "the first German war" (so noch in seinen 1958 postum veröffentlichten Erinnerungen). Stets wandte sich Vansittart gegen die "Zwei-Deutschland-Theorie" und die These vom "anderen Deutschland".
Vansittarts höchster Einfuß begann mit seiner Ernennung zum Unterstaatssekretär 1930: "Vansittart, and not the foreign secretaries under whom he nominally worked," hat Brian McKercher zusammengefasst, "provided the strategic basis for British foreign policy between 1930 and 1937". Später datiert den Zeitraum des höchsten politischen Einflusses zwischen 1934 und 1937. Neville Chamberlain stellte Vansittart schließlich durch Beförderung zum einflusslosen außenpolitischen Berater kalt. Über diese Phase der lebhaften Auseinandersetzungen zwischen Chamberlain, Außenminister Eden und Vansittart hätte man gern mehr erfahren. Leider verzichtet Später darauf zu analysieren, "ob die Klage, Vansittart sei als Oberster Diplomatischer Berater der Regierung einfach ignoriert oder gar von Eden unterdrückt worden, den Tatsachen entspricht oder nicht" (75). Hier hätte man gern eine quellenorientierte Meinung, zumal Eden "seinen" Unterstaatssekretär bekanntermaßen als "sincere, almost fanatical, crusader" charakterisierte und zahlreiche Zeitgenossen auch aus dem Anti-Appeasement-Lager dieser Einschätzung beistimmten.
Zwar blieb Vansittart trotz der Degradierungsbeförderung von 1938 bis zu seinem 60. Geburtstag im Juni 1941 im öffentlichen Dienst, befreite sich dann aber endgültig von den staatsmännischen Fesseln. Seine seit Dezember 1940 ausgestrahlten Radiosendungen unter dem Titel Black Record hatten, wie der Verfasser treffend resümiert, eine "ungeheure öffentliche Resonanz". Dabei waren sie in hohem Maße "unenglisch", weil Vansittart die Deutschen darin pauschal einer Art zweiter Erbsünde beschuldigte. Kein Wunder, dass sich weite Teile der britischen Presse, ein Großteil des britischen Establishments und auch Premierminister Churchill von Vansittart distanzierten. Trotz seiner immensen Resonanz sah Vansittart sich selbst als einen Gescheiterten. Er meinte auf sein Leben zurückblickend, dass die britische Regierung seinen Empfehlungen in keiner entscheidenden Frage gefolgt sei und betrachtete seine Karriere als verfehlt.
Dies ist ein wichtiges Buch, das weitere Analysen ähnlicher Art anregen sollte. Ihm gelingt die Mischung aus Biographie und Diskursanalyse, auch wenn sich das Buch dadurch bisweilen wie ein langer Literaturbericht liest. Die so gewonnene Übersicht ist nicht nur deshalb hilfreich, weil dergleichen Porträts im deutschsprachigen Raum Mangelware sind. Späters Buch sollte auch motivierend dazu beitragen, sich intensiver mit der internationalen Dimension jener Differenzen zwischen "Germany and the West" beschäftigen, die, bei aller persönlichen Überspitzung im Falle Vansittarts, den Grundtenor einer Deutschen-Perzeption nicht allein in Großbritannien bilden, deren Ausläufer bisweilen bis in die Gegenwart zu vernehmen sind.
Magnus Brechtken