Matthias M. Tischler: Die Christus- und Engelweihe im Mittelalter. Texte, Bilder, Studien zu einem ekklesiologischen Erzählmotiv (= Erudiri Sapientia. Studien zum Mittelalter und zu seiner Rezeptionsgeschichte; Bd. V), Berlin: Akademie Verlag 2005, 244 S., ISBN 978-3-05-004075-2, EUR 94,80
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"Der Pilgerschaft schaden diejenigen, die sagen, dass Christus und die Apostel an der Weihe der Aachener [Marienkirche] teilnahmen und dass dort alle Sünden wie in der Taufe getilgt würden", warnte der Passauer Anonymus um 1260. Wer sich von solchen Warnungen angelockt über den Topos der himmlischen Kirchweihe belesen wollte, war bisher in der deutschen Forschung am besten bei Romuald Bauerreiß OSB aufgehoben, der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mehrere komparatistische Studien zu diesem Erzählmotiv publiziert hatte und mit A. Wirth 1967 auch den Artikel "Engelweihe" im RDK verfasste. Bauerreiß galten diese seiner Kenntnis nach ab dem 12. Jahrhundert bezeugten Legenden als narrative Strategie, um den Wechsel eines Kirchenpatroziniums zu heilen und die ältere Weihe - meist Christus - in den jüngeren Kult - meist einen marianischen - zu integrieren, was im besonderem Maße bei 'alten' Wallfahrtskirchen zu beobachten sei. Dem hatte schon 1943 G. Morin in einem Aufsatz partiell widersprochen. Seitdem hatte die Forschung sich dem Gegenstand nicht mehr in einer vergleichenden Untersuchung angenommen.
Dieses Thema nun doch angepackt zu haben, ist daher ein Verdienst der hier vorzustellenden Arbeit. Was den Leser erwartet, der den exquisit produzierten Band von knapp 250 Seiten aufschlägt, verrät der Untertitel: "Texte, Bilder und Studien" mit seiner Dreiteilung in diskursive Darstellung und die Präsentation von Quellen- bzw. Bildmaterial. Den ersten Teil bilden "Studien", eine Abhandlung von insgesamt 66 Seiten (12-78), also ein Drittel des Gesamtumfangs. Es folgen "Texte", d.h. auf 61 Seiten Quellenauszüge zu einschlägigen Weihelegenden von insgesamt 20 Kirchen (81-142). Bei dem dritten Teil (145-166) handelt es sich um 13 Tafeln mit einer Einleitung von gut vier Seiten, einer Zeichnung zur Bartholomäuslegende, drei Miniaturen aus der Dagobertvita, die Saint-Denis betreffen, und neun Darstellungen der Einsiedler Engelweihe. In der 52 Seiten umfassenden Bibliographie (167-209) werden 123 Editionen sowie knapp 500 Literaturtitel benannt. Das 34 Seiten füllende Register (211-244) verzeichnet die Fundorte für Bibelstellen, Handschriften und Inkunabeln, Personen, Orte, Sachen und Begriffe.
Schon das Gewicht der Anhänge verrät, dass es sich hier nicht um eine mehr oder weniger abschließende Gesamtdarstellung handelt, sondern gewissermaßen um einen in Buchform gebrachten Zettelkasten, über dessen Benutzung die einleitenden "Studien" orientieren wollen, denn die "gegenwärtige Forschungslage verbietet eine umfassende systematische Behandlung dieses besonderen Erzählmotivs", weshalb die "Studie [...] allenfalls ein erster Schritt zu einer adäquaten methodischen Erforschung der Gesamtüberlieferung sein" kann (16f.).
Die "Studien" gliedern sich in fünf Kapitel. Das erste bietet eine knappe forschungsgeschichtliche Einführung, die mit einer definitorischen Bestimmung des Themas schließt: Unter Engelweihe ist die Weihe durch Christus selbst zu verstehen, weshalb der Buchtitel von "Christus- und Engelweihe" rede.
Das zweite Kapitel "Quellen und Traditionen" greift zunächst weit aus: Geboten wird im knappsten Referat das, was zu "Engel" in den exegetischen, liturgiegeschichtlichen und ikonographischen Handbüchern zu finden ist. Für das Thema der Untersuchung zentral sind die Ausführungen zur Funktion der Engel in der Kirchweihliturgie des lateinischen Westens und zur Genese des liturgischen Formulars (24-27). Mit dem Motiv der Erscheinung des Erzengels Michael auf dem Monte Gargano und davon abgeleitet dem Mont Saint-Michel wird eine Vorform der hochmittelalterlichen Engelweihe vorgestellt. Um 1100 wurden deren spätere Versionen nach dem Muster der nun 'modernen' Legenden umgeformt. Eine weitere Parallele zu den Christusweihen sind die himmlischen Weihen durch andere Kirchenpatrone, wie sie von Tischler für vier Kirchen zeitlich beginnend mit der Weihelegende der Westminster Abbey (11. Jahrhundert) bis zum Odilienberg (15. Jahrhundert) unter dem Namen "Apostelweihe" vorgestellt werden (33-36).
Im dritten Kapitel (37-47) wird mit z.T. intensiver Diskussion des jeweiligen Handschriftenbefundes nach den ältesten Textzeugen für Engelweihtraditionen gefahndet. Tischer zeigt, dass diese erstmals nach 1000 als Notizen im Kontext von Heiligenlegenden überliefert wurden, so für Saint-Pierre in Limoges und etwas später für Saint-Maur-des-Fossés, bevor sie als eigenständige Weiheerzählungen auftauchen.
Das vierte Kapitel fragt nach dem historischen Warum dieser Legenden. Nach dem Befund des dritten Kapitels seien sie ursprünglich Produkte des 11. Jahrhunderts, also einer "Zeit des allgemeinen kirchlichen Umbruchs" (49). Für ihre Entstehung sind nach Tischler fünf Gründe denkbar: Konkurrenz durch neue Ordensgemeinschaften, Kritik an unwürdigen Priestern, ökonomische Sicherung gegen Ansprüche der Vögte, Konkurrenz zwischen rivalisierenden Parallelorten und die Steigerung des Prestiges als Pilgerort (49f.). Exemplarisch werden diese Fragen an der Genese der Einsiedler Weihelegende in der Handschriftenüberlieferung abgehandelt (50-59). Danach hatte der Ursprung der Legende primär mit der Abwehr von Eingriffen durch die Klostervögte um 1150 zu tun und richtete sich nicht gegen den Konstanzer Bischof. Freilich wird für die erst im 14. / 15. Jahrhundert bezeugten Legenden von Andechs, Avignon und Augsburg die Förderung der Wallfahrt als wesentliche Funktion angenommen (60-62). Die Ausgrenzung des Bischofs scheint u.a. für das Kloster Saint-Pierre-le-Vif entscheidend gewesen zu sein (62-64) und auch die Konkurrenz benachbarter Klöster hat eine Rolle gespielt, so u. a. in Aniane und Gellone (64-69).
Das fünfte Kapitel (70-75) versucht einzelnen Momenten der Erzählungen in verwirrender Kürze nachzugehen: Patroziniumswechsel, Weihedaten und Kreuzfeste, Autorität durch Alter und beteiligte Personen und weitere Legendentopoi. Die "Studien" werden mit einer knappen Zusammenfassung (76-78) abgeschlossen.
Die angeschlossene Edition bietet eine Sammlung von Quellenauszügen, die verstreuten älteren Editionen entnommen sind und z.T. an den Handschriften überprüft wurden. Da editorische Kommentare fehlen und oft nur kurze Quellenzitate geboten werden, bleibt man aber für die Weiterarbeit wohl auf die zitierten Editionen angewiesen. Ob mit der Kompilation des "Bilder"-Teils eine weiterreichende Absicht verbunden war, ist dem Rezensenten unklar geblieben. Ein Hinweis sei erlaubt: In der Pilgerzeichenkartei Kurt Köster (Deutsches Glockenarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg) finden sich Nachweise von 65 Einsiedler Engelweihzeichen; hinzu kommen die Neufunde nach 1986, besonders die zitierten aus den Niederlanden.
Man tut wohl am besten daran, den Empfehlungen des Autors entsprechend nicht bei den "Studien" stehen zu bleiben, sondern mit dem ausgebreiteten Material weiterzuarbeiten. Sollte eine solche Unternehmung vielleicht über das Engelweihmotiv und auch die "Apostelweihe" hinaus ausgeweitet werden zu einer vergleichenden Sicht mittelalterlicher Kirchweihlegenden? Die Funktion des Legendenmotivs in spätmittelalterlichen Kontexten bedarf noch exakterer Untersuchungen. Die Attraktion, die eine Engelweihlegende spätmittelalterlichen Wallfahrtskirchen verliehen hat, zielte nämlich immer auf eine Größe, die in der Argumentation Tischlers ausfällt: den Ablass. Dabei ist zu vermuten, dass gerade die Kirchweihe samt ihren vielfältigen Erinnerungsmomenten ein wesentliches Element der mittelalterlichen Ablasspraxis bildete.
Hartmut Kühne