Brigitte Mazohl-Wallnig / Andreas Bösche: Zeitenwende 1806. Das Heilige Römische Reich und die Geburt des modernen Europa, Wien: Böhlau 2005, 299 S., 16 Farb-, 43 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-77377-1, EUR 19,90
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Das Jahr 1806 zählt zu den symbolhaften Daten, in denen sich der große Umbruch der Jahrzehnte um 1800 verdichtete. Mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation durch den letzten Römischen Kaiser Franz II. am 6. August 1806 hatte - keineswegs so unbeachtet und unbetrauert, wie man lange Zeit geglaubt hat - das politische und rechtliche Ordnungsgefüge Mitteleuropas sein Ende gefunden, nachdem wenige Jahre vorher der Reichsdeputationshauptschluss seine innere Struktur grundlegend verändert hatte; die Freisetzung von reichsrechtlichen Bindungen zählte zu den Ausgangsbedingungen des Reformschubs und der Durchsetzung der inneren Souveränität in den Rheinbundstaaten in den darauf folgenden Jahren.
Anders als der Titel zu versprechen scheint, handelt es sich bei dem Werk von Brigitte Mazohl-Wallnig zur "Zeitenwende 1806" allerdings nicht um eine Darstellung, die ausschließlich oder auch nur vorwiegend dem Ende des Heiligen Römischen Reiches und der Epochenschwelle der Jahre um 1800 gewidmet wäre. Gegenstand des Buches ist vielmehr die Geschichte des Reiches selbst, die in ihren Grundzügen von ihren Anfängen im neunten Jahrhundert an entfaltet wird. Die Grundlagen der Herrschaftsauffassung im Mittelalter sowie die Konflikte zwischen Kaiser und Papst werden knapp geschildert; einen besonders breiten Raum erhält der "Aufstieg der Fürsten" im späten Mittelalter. Der Schwerpunkt des Buches liegt jedoch auf der Geschichte des Reiches in der Frühen Neuzeit oder vielmehr seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, in jenen Jahrhunderten also, in denen die Krone des Reiches - abgesehen von dem kurzen wittelsbachischen Zwischenspiel der Jahre 1742 bis 1745 - mit dem Haus Österreich verbunden war.
Dabei rückt die Autorin zwei Komplexe in den Mittelpunkt ihrer Darstellung der frühneuzeitlichen Reichsgeschichte. Zum einen gilt ihr Interesse dem Verhältnis des Hauses Österreich zum Reich, zum anderen dem Gegensatz von "absolutistischen" Staaten innerhalb des Reichsverbandes und der ständisch verfassten Universalmonarchie. Der Gegenstand des Buches ist damit letztlich das Verhältnis des Reiches zu alternativen politischen Ordnungsmodellen: Der in dieser Zeit entstehenden monarchia austriaca als eines ebenfalls übernationalen, dabei aber über das Reich weit hinausweisenden Staatenverbunds einerseits, dem "absolutistischen Fürstenstaat" andererseits, gegenüber dem das - was hier offenbar nicht pejorativ gemeint ist - "Monstrum des Heiligen Römischen Reiches" als "eine aus der Tradition genährte und dennoch anpassungsfähige Rechtsordnung" ein "faszinierendes Gegenmodell" gebildet habe (191).
Wenn Mazohl-Wallnig die ständisch verfasste Universalmonarchie den "absolutistischen" Staaten innerhalb des Reichsverbandes entgegenstellt, greift sie den grundlegenden Sachverhalt auf, dass "Staatlichkeit" sich in den Territorien entwickelte - und nicht im Reich. Dabei allerdings werden der "Absolutismus" in den Territorien, zumal in Österreich und Preußen, und die ständische Verfasstheit des Reiches einander allzu schematisch gegenübergestellt. Der Rezensent neigt selbst - etwa mit Johannes Kunisch - dazu, den Begriff des "Absolutismus" nicht völlig preisgeben zu wollen. Gleichwohl ist bei einer solchen idealtypischen Gegenüberstellung nicht nur zu berücksichtigen, dass ja auch die meisten Territorien des Reiches einschließlich der habsburgischen Erblande ständisch verfasst waren, sondern dass der Begriff des "Absolutismus" in den vergangenen Jahrzehnten einer grundlegenden Revision unterzogen wurde, die zu seiner grundsätzlichen Infragestellung und bei zahlreichen Frühneuzeithistorikern zu seiner völligen Verwerfung geführt hat. Diese Problematik des Begriffs wird jedoch nicht berührt oder angesprochen. Auch eine stark typisierende Gegenüberstellung von Fürstenstaat und Reich kann jedoch auf eine differenzierende und relativierende Betrachtung der staatlichen Entwicklung in den Territorien des Reiches nicht verzichten, selbst wenn man sich dazu entschließt, an dem Begriff des "Absolutismus" noch festzuhalten.
Indem Mazohl-Wallnig zugleich das Verhältnis von Reich und monarchia austriaca in das Zentrum ihrer Darstellung rückt, zeigt sie, wie die äußeren und inneren Staatsbildungsprozesse die monarchia austriaca aus dem Reich hinausführten. Die habsburgischen Erblande werden einerseits als integraler Bestandteil des Reiches in die Darstellung einbezogen, doch wird zugleich deutlich gemacht, in welchem Maße die 'Überlagerung' (vgl. 95 f.) mit dem dynastischen Herrschaftsraum der entstehenden monarchia austriaca seit dem Erbfall nach der Schlacht von Mohács einer der Faktoren war, die für das Reich letztlich sprengend wirkten. Für diesen konkurrierenden Reichsbildungsprozess, der seit den Türkenkriegen um 1700 und dem spanischen Erbfolgekrieg weite Teile Südosteuropas und Italiens einschloss, stellte die Pragmatische Sanktion - bis zum Ersten Weltkrieg eines der Grundgesetze der Habsburgermonarchie - eine entscheidende Grundlage dar; dass die Schlacht von Belgrad 1717 als "identitätsstiftender Erinnerungsort tief im kollektiven Gedächtnis Österreichs erhalten geblieben" (176) ist, verweist auf die in das 19. Jahrhundert nachwirkende Bedeutung der Türkenkriege als konstitutiver Faktor der habsburgischen Reichsbildung. Die Problematik des Verhältnisses von Habsburgermonarchie und Deutschland, die schließlich in der Revolution von 1848/49 in ihrer ganzen Schärfe zutage treten sollte, war in der Struktur jener "Ellipse mit zwei Brennpunkten" (Volker Press) angelegt, in der sich im Laufe des 18. Jahrhunderts der Schwerpunkt auf den einen Brennpunkt zuungunsten des anderen verschob.
Bei der weit gespannten Darstellung kann es wohl nicht ausbleiben, dass mitunter Fehler unterlaufen. So gebot etwa Karl V./I. noch keineswegs über Portugal (96), das erst 1580 für sechzig Jahre unter die spanische Herrschaft kam; Großbritannien war mit Kurbraunschweig-Lüneburg (Hannover) erst seit 1714 in Personalunion verbunden, nicht seit 1702 (158), als mit Anna die letzte Königin aus dem Hause der Stuart die Thronfolge antrat, und man dürfte wohl kaum behaupten können, dass Brandenburg-Preußen mit den eher bescheidenen Gewinnen in Vorpommern, zu denen noch weitere kleinere und nicht aus schwedischem Vorbesitz stammende Erwerbungen in Westfalen und am Niederrhein kamen, "um ein Vielfaches - auf Kosten Schwedens - vergrößert" aus dem (2.) Nordischen Krieg hervorgegangen sei (175).
Die Darstellung scheut sich nicht vor pointierten Formulierungen und Deutungen, die freilich zuweilen überzogen wirken - etwa, wenn davon die Rede ist, Maximilian I. habe versucht, "das Reich in einen 'modernen' Staat zu verwandeln bzw. die Voraussetzungen für einen solchen zu schaffen" (85 f.). Insgesamt handelt es sich jedoch um eine gut lesbare knappe Einführung in die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches. Ihre Stärke besteht nicht zuletzt darin, dass sie eindringlich darauf verweist, in welchem Maße das problematische Verhältnis zur entstehenden monarchia austriaca Struktur und Geschichte des Alten Reiches in seiner letzten Phase mitbestimmte.
Georg Seiderer