Rezension über:

Anja Müller (ed.): Fashioning Childhood in the Eighteenth century. Age and identity (= Ashgate Studies in Childhood, 1700 to the Present), Aldershot: Ashgate 2006, XIII + 243 S., ISBN 978-0-7546-5509-1, EUR 47,50
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Rezension von:
Claudia Kollbach
Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Kollbach: Rezension von: Anja Müller (ed.): Fashioning Childhood in the Eighteenth century. Age and identity, Aldershot: Ashgate 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15.10.2007], URL: https://www.sehepunkte.de
/2007/10/12603.html


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Anja Müller (ed.): Fashioning Childhood in the Eighteenth century

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Unter dem Titel "Fashioning Childhood" versammelt der von Anja Müller herausgegebene Sammelband 17 Beiträge zum Thema Kindheit im 18. Jahrhundert. Der Titel verweist auf den postulierten methodischen Ausgangspunkt der hier vorliegenden Auseinandersetzung mit dem Thema: Kindheit soll als "gemacht", Kindheitskonzeptionen sollen als von kulturellen Identitäten und damit von wechselnden Einstellungen abhängige "Konstrukte" begriffen werden, die wiederum Auswirkungen auf individuelle Kindheitsbiographien haben konnten. Damit reiht sich dieser Band explizit in die Untersuchungen zu kulturellen Identitätskonstruktionen ein, die unter dem Einfluss von Poststrukturalismus, Foucaultscher Diskursanalyse, New Historicism und kulturgeschichtlichen Studien entstanden sind.

Dass die Phase der Kindheit schwierig zu konturieren ist und verschiedenartig definiert wird und wurde, darauf macht der Untertitel des Bandes aufmerksam, der "Age and Identity" lautet. Damit führt Müller in ihrer umsichtigen Einleitung eine bisher vernachlässigte Kategorie der Identitätsbildung an, die gleichwertig mit den Kategorien von Rasse, Klasse und Geschlecht berücksichtigt werden sollte. Während diese Kategorie ausdrücklich als Mittel der sozialen Distinktion angesehen wird, spielt die schichtspezifische Einordnung von Kindheitskonstrukten in den Aufsätzen erstaunlicherweise keine bedeutende Rolle. Für eine Einbeziehung etwa von adligen Kindheitsmodellen hätte jedoch gesprochen, dass für diese Schicht durchaus Quellen existieren, die aus der Hand der Kinder selbst stammen. Damit hätte die von der Herausgeberin allgemein beklagte, fast ausschließlich erwachsenenzentrierte Perspektive auf das Thema aufgebrochen werden können. Der Gefahr der Dehistorisierung von Kindheit und ihren historischen materiellen Gegebenheiten, die mit der Fokussierung auf den Konstruktionscharakter gegeben sein könnte, sollen dabei einzelne Beiträge entgegenwirken, die sich entweder der historischen Praxis widmen oder gar beide Perspektiven einnehmen - ein Anspruch, der jedoch nur vereinzelt verwirklicht wird.

Der Pluralität der Kindheitskonzeptionen des 18. Jahrhunderts entspricht die Heterogenität der in diesem Band versammelten Fallstudien, die in ihrer Mehrzahl auf ein Kolloquium an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg im Juni 2003 zurückgehen: Von der (städtischen) Kulturgeschichte (Borsay) über die bisher vernachlässigte Schulbuchgeschichtsforschung (Fielitz) und von der Rechts- bzw. Kriminalitätsgeschichte (Giovanopoulos, Böker) über die Medizingeschichte (Benzaquén, Ritzmann) bis hin zur Wissenschaftsgeschichte verschiedenster Disziplinen (Krupp, Houswitschka) sind hierbei unterschiedliche Perspektiven auf das Thema vertreten. Weitere Beiträge beziehen sich auf die Gebiete der Kunstgeschichte (Johnson, Fort) und vor allem der Literaturgeschichte (Müller, Jochum, Hollm, Vanderbeke, Glaser, Sabor, Crown). Kindheitskonzepte in der englischen Literatur erweisen sich damit als Schwerpunkt des Bandes, was sich nicht zuletzt dadurch erklärt, dass die Herausgeberin ebenso wie die Mehrheit der Verfasser als Fachleute für englische Literatur ausgewiesen sind. Dabei wird die auf England konzentrierte Sichtweise nur durch vereinzelte Beiträge zu Frankreich, Deutschland und die Schweiz erweitert. Entsprechend fehlen häufig Einordnungen in einen größeren gemeineuropäischen Kontext, wie etwa die fast durchgängig fehlende Bezugnahme auf die (immerhin "pädagogische") Bewegung der Aufklärung erhellt.

Die Heterogenität der einzelnen Artikel verweist zudem auf das bekannte grundsätzliche Problem von Sammelbänden, nämlich das des gemeinsamen roten Fadens ihrer einzelnen Beiträge. Dies bringt bereits die Gliederung des Bandes zum Ausdruck, die mit der Aufteilung der Aufsätze in zwei Hauptkapitel nicht ganz überzeugend gestaltet wurde. So stellt das erste Kapitel des Buches mit dem unspezifischen Titel "Cultural Contexts" primär ein Sammelbecken für alle Beiträge dar, die sich nicht dem zweiten Kapitel mit dem Titel "Literary and Visual Representations" zuordnen ließen. Das in der Einleitung beschriebene methodische Vorgehen dient nicht notwendigerweise der Verbindung aller Beiträge: So erweist es sich einerseits als zu allgemein und beliebig, andererseits als zu anspruchsvoll, als dass ihm alle Aufsätze gerecht würden. Lediglich einige Beiträge rekurrieren explizit auf den Konstruktionscharakter von Kindheit und seine Implikationen; andere Autoren machen ihn jedoch nicht wirklich transparent.

Dass Kindheit in erster Linie gedacht und gemacht wird, darauf verweist jedoch z.B. recht anschaulich der Aufsatz von Anna-Christina Giovanopoulos, der sich mit der Verortung des Kindes in den komplexen rechtlichen Bestimmungen Englands im 18. Jahrhundert beschäftigt und dazu kontrastierend Bezüge zur sozialen Realität herstellt. Diesen Beitrag ergänzend zieht Uwe Böker zeitgenössische englische Diskurse über die zunehmende Jugendkriminalität heran. Beide Autoren zeigen, wie sich auf Kinder beziehende Rechtskonstruktionen im Eigeninteresse der Gesellschaft formuliert wurden. Dass Gesetze maßgebliche Zensuren für die Abgrenzung von Altersphasen etablierten, verdeutlicht dabei, wie berechtigt die Forderung der Herausgeberin ist, die Kategorie "Alter" stärker als bisher zu berücksichtigen. Die hier formulierten Ergebnisse werden durch Anja Müllers eigene Untersuchung unterstützt, die sich mit der Bedeutung der englischen moralischen Wochenschriften für die Verbreitung eines vor allem teleologischen Kindheitskonzeptes beschäftigt: Ihr zufolge habe dieses Konzept die nach den unterschiedlichen Lebensphasen aufgebaute hierarchische Gesellschaftsordnung nicht nur ideologisch untermauert, sondern zugleich einen altersspezifischen Habitus propagiert. Für einen gänzlich anderen Bereich - nämlich den der Medizingeschichte - zeigt Adriana S. Benzaquén auf, dass das Kind als Projektionsfläche den unterschiedlichsten Interessen diente: So war die zunehmende Professionalisierung der medizinischen Behandlung von Kindern im 18. Jahrhundert und damit verbunden die Wahrnehmung von Kindheit als eigenständige Phase nicht nur neuen pädagogischen Theorien, sondern auch dem erwachenden demographischen Interesse des Staates geschuldet.

Doch nicht nur Gesetzestexte, öffentliche und medizinische Diskurse gaben dem "Kind" ein bis in die soziale Praxis hineinreichendes Profil. Auch die im 18. Jahrhundert entstehende Psychologie entwarf recht unterschiedliche Konzepte von der Natur des Kindes, wie Anthony Krupp durch seine Untersuchung des von Karl Philipp Moritz herausgegebenen "Magazin[s] zur Erfahrungsseelenkunde" illustrieren kann. Während Moritz das Kind zunächst als "specula naturae" ansah, dessen Äußerungen lediglich genau zu beobachten und dann zu interpretieren seien, führte sein wachsender Skeptizismus an der Transparenz der kindlichen Natur schließlich zu einer Ablehnung der "Seelenzeichenkunde", die von anderen Autoren des Journals durchaus noch vertreten wurde. Hier wäre jedoch die Einbettung der verschiedenen pädagogischen und psychologischen Positionen in einen größeren Kontext - so der philanthropischen Erziehungsbewegung - wünschenswert gewesen. Insbesondere Moritz' Kritik an den mechanistischen Entwicklungstheorien hätte zudem eine schöne Querverbindung zu dem Aufsatz von Dirk Vanderbeke geboten: Plausibel entfaltet dieser die These, dass Laurence Sterne in seinem Roman "Tristram Shandy" den mit Newtons Himmelsmechanik neu auflebenden mechanistischen Wissenschaftsdiskurs der Zeit mit viel Ironie auf die Biographie der Hauptfigur übertragen und damit zugleich verschiedene, im 18. Jahrhundert miteinander konkurrierende pädagogische Sichtweisen auf das Kind konterkariert habe.

Während diese Beiträge das Thema überwiegend auf diskursiver bzw. literarischer Ebene angehen, bringen die Aufsätze von Johnson und Fort die bildliche Repräsentation von Kindern unmittelbar mit der historischen Realität in Verbindung. So deckt Dorothy Johnson in ihrem Aufsatz über die Kinderporträts von Girodet, Goya, Reynolds und Runge deren neuartige psychologische Funktion auf, die wiederum Rückschlüsse auf die jeweiligen Auftraggeber zuließe. Sich auf einen einzigen Künstler konzentrierend untersucht Bernadette Fort Abbildungen von Kleinkindern in den Gemälden von Jean-Baptiste Greuze und setzt diese auf überzeugende Weise in Bezug zu der mit Rousseaus "Émile" neu entfachten Kampagne zum Selbststillen ebenso wie zu dem neuen kinderzentrierten, aber auch sexualisierten Familienmodell der Zeit.

Weniger gut gelungen ist dieser Brückenschlag zwischen Repräsentation und historischer Realität in dem Aufsatz von Klaus Peter Jochum. Hier werden die Kinderdarstellungen in Defoes Romanen ohne genauere Nachweise als Medium der historischen Realität ausgelegt, an der sich Defoes zuvor in einem Erziehungstraktat formulierten rigiden moralischen Forderungen rieben. Das Fazit des Beitrags ist kaum verwunderlich, berücksichtigt man (worauf auch Jochum selbst hinweist), dass der Erziehungsratgeber für die mittleren Klassen und die Aristokratie konzipiert wurde, es sich bei Defoes literarischen Figuren jedoch um Angehörige der Unterschicht handelt. Einen umfassenden Überblick über den literarischen Diskurs zur weiblichen Erziehung in England gibt Brigitte Glaser, leider ohne dabei auf gesamteuropäische Zusammenhänge von Identitätskonstruktionen einzugehen, wofür die frühneuzeitliche "Querelle des Femmes" einen guten Anknüpfungspunkt geboten hätte.

Thema, Zugang und Überzeugungskraft der hier besprochenen Beiträge weisen folglich starke Diskrepanzen auf, die sich mit der Besprechung der hier ausgelassenen Aufsätze bestärken ließen. Die Heterogenität der Beiträge lässt sich jedoch auch positiv bewerten, macht sie den Band doch zu einer Fundgrube für die unterschiedlichsten Fragestellungen zum Thema Kindheit - und je nach Aufsatz zu einer anregenden und anschlussfähigen Lektüre.

Claudia Kollbach