Sandra Herbert: Charles Darwin, Geologist, Ithaca / London: Cornell University Press 2005, 485 S., ISBN 978-0-8014-4348-0, GBP 20,95
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Es war schon länger überfällig, dass sich endlich einmal eine wissenschaftshistorische Monografie dem bisher noch weitgehend unbekannten Verfasser der seinerzeit stark rezipierten geologischen Werke Volcanic Islands und Geological Observations on South America widmet. Dieser Geologe, der eine Ausbildung bei den führenden Vertretern des Fachs in Cambridge absolvierte, ausgedehnte Forschungsreisen zur Erforschung tektonischer Formationen und paläontologischer Ablagerungen unternahm und lange Zeit als Sekretär der Geological Society of London wirkte, war niemand anderes als Charles Darwin. Ihm, der seine wissenschaftliche Identität 1838 mit den Worten "I, a geologist" bestimmte, hat die Wissenschaftshistorikerin und Darwin-Spezialistin Sandra Herbert ein detailreiches und reichhaltig illustriertes Buch gewidmet, das maßgeblich von ihrem intimen Einblick in Darwins Briefe, Manuskripte und vor allem Notizbücher, die sie (mit-)herausgegeben hat, profitiert. Es handelt sich um die bisher umfassendste Arbeit zu Darwins geologischen Studien, deren Bedeutung für die Entwicklung der Geologie und seiner eigenen wissenschaftlichen Grundgedanken.
Schwerpunkt der biografisch-chronologisch aufgebauten Studie sind Darwins Feldforschungen, insbesondere die, die er während seiner Erdumrundung mit dem Forschungsschiff H.M.S. Beagle zwischen 1831 und 1836 durchführte (bes. 140-178). Weiterhin fokussiert die Untersuchung die wechselnden Forschungsschwerpunkte Darwins insbesondere bis 1844, als er sich zunehmend für die Transmutation der Arten zu interessieren begann und geologische Themen mehr und mehr in den Hintergrund traten. Ein abschließender Ausblick auf die Zeit bis 1859 rundet die Darstellung ab.
Herbert verfolgt in ihrem Werk die gängigen Fragestellungen der jüngeren Wissenschaftsgeschichte, insbesondere zu Praktiken der Wissensproduktion, dem konkreten Zusammenspiel von Theorieentwicklung und Alltag des Sammelns, der Aufbewahrung, Kennzeichnung und Bestimmung geologischer, botanischer und zoologischer Proben. Ausgiebig werden die nötigen technischen Hilfsmittel und chemischen Verfahren analysiert (97-115), werden Darwins Aufzeichnungspraktiken beschrieben, wird sein Weg zum wissenschaftlichen Autor von skizzenhaften Notizen, ersten Hypothesen, Zeichnungen und Schemata bis zu seinen Publikationen begleitet (99-105; 141-158; 173f.). Nachgegangen wird aktuellen Fragen der Darwin-Forschung, wie der nach Ethos und Arbeitsumfeld viktorianischer "Gentleman-Scientists" (71-79) oder nach den ästhetischen Dimensionen (129-139) der Darwinschen Naturerfahrung, seiner "poetical geology". Auch die naturtheologischen (179-196) und romantischen Hintergründe terminologischer und theoretischer Entscheidungen Darwins sind Thema der Studie und werden im Zusammenhang mit seinem intensiven Studium der Reisebeschreibungen Alexander von Humboldts behandelt (58-67; 129-139).
Darwins erste Beschäftigung mit der Geologie in den 1820er- und 1830er-Jahren fiel in eine Zeit, in der sich die Geologie als Disziplin etablierte (5-26). Erste geologische Feldforschungen unternahm er 1831 als Begleiter Adam Sedgwicks in Wales, wohin er auch zu seinen letzten Feldforschungen 1842 wieder zurückkehrte. Während seiner Weltumseglung führte er Untersuchungen zu Korallenriffen, zu den Erdstrata und zu Fossilien atlantischer und pazifischer Inseln sowie Südamerikas durch. Wie Herbert herausarbeitet, bewegten sich Darwins Studien allerdings nicht im Rahmen des geologischen Kernparadigmas der Stratigrafie (48-96), sondern widmeten sich einer Liste (90-96) geologischer Randthemen, wie der Entstehung von Korallenriffen (168-171) oder der Bedeutung (paläontologischer) Musterexemplare (97-128), deren Ergebnisse er nach seiner Rückkehr in drei Büchern und mehr als einem Dutzend Artikeln veröffentlichte. Auch wenn sich die meisten seiner Erklärungsversuche nicht durchsetzen konnten, so behält doch seine Theorie der Entstehung von Korallenriffen als Hinweis auf die Bewegung der Erdkruste noch heute Gültigkeit.
Die Detaildichte der Darstellung, der oft interpretierende Passagen fehlen, mag zuweilen ermüden, die Relevanz mancher Aspekte manchmal nur Darwin-Spezialisten einleuchten; zudem sind viele Bereiche der Wissenschaftsgeschichte der Geologie bereits gut erforscht [1]. Dennoch gelingt es Herbert, auch die hinlänglich bekannte Entstehungsgeschichte der Evolutionstheorie durch neue Facetten zu bereichern. Insbesondere kann sie zeigen, dass Darwins geologische Interessen und Forschungen Fragen aufwarfen, deren Antworten sich schließlich in seiner Abstammungslehre fanden (295-354): über sein anfängliches Interesse an Fossilien als Markern zur Bestimmung von Erdschichten gelangte er bald zur Beschäftigung mit den Fossilien selbst und ihrer Beziehung zu lebenden Arten. 1835 fragte er nach dem Verschwinden der Spezies, was deshalb bemerkenswert ist, weil er damit bereits am Zusammenhang von geologischem Wandel und dem Aussterben von Arten interessiert war, als er den Galapagos-Inseln seinen berühmten Besuch abstattete (308-317). Als Darwin Mitte 1836 notierte, dass die Zoologie des Archipels genau studiert werden müsse, "for such facts
Während die Geological Society zumeist spezifische Fälle diskutierte, folgte Darwin dem Ideal der Einfachheit, dass John Herschel aufgestellt hatte. Im Roten Notizbuch schreibt er 1836: "Geology of whole world will turn out simple" (199). Hier macht Herbert den entscheidenden Antrieb seiner Forschungen aus: Die Suche nach einer "einfachen" geologischen Generaltheorie über die Mechanik von Erhebungen und Absenkungen der Erdkruste (197-294). Erhellend in diesem Kontext ist der Nachweis, wie sich Darwins Interesse von der Entstehung isolierter Inseln und Korallenriffe hin zu generellen Veränderungen von Kontinentalstrukturen verlagerte. Während sich kleinere geologische Einheiten relativ schnell veränderten, erwiesen sich Kontinente als über so lange Zeiträume stabil, dass Darwins ursprüngliche These zur Entstehung neuer Arten aufgrund geographischer Isolation 1837 an Plausibilität verlor - sie ließ sich nicht ohne weiteres auf die größeren geografischen Zusammenhänge der Kontinente anwenden (320-345). Darwin habe sich also auf die Suche nach einem neuen Erklärungsprinzip machen müssen, das er im Prinzip der natürlichen Selektion gefunden habe.
1859 wurde Darwin aufgrund seiner geologischen Arbeiten die "Wollaston"-Medaille verliehen, höchste Auszeichnung der Geological Society of London. Acht Monate später erschien On the Origin of Species, in dem die Geologie nur eine untergeordnete Rolle spielt. Will man dieser wieder die ihr gebührende Beachtung zuteil werden lassen, findet man in Herberts Studie einen neuen, starken Ausgangspunkt.
Anmerkung:
[1] Vgl. bereits Nicolaas A. Rupke, The Great Chain of History: William Buckland and the English School of Geology, 1814-1849, Oxford: Clarendon Press 1983, sowie die diversen Arbeiten von Martin Rudwick.
Bernhard Kleeberg