Anna Ohlidal / Stefan Samerski (Hgg.): Jesuitische Frömmigkeitskulturen. Konfessionelle Interaktion in Ostmitteleuropa 1570-1700 (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa; Bd. 28), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2006, 337 S., ISBN 978-3-515-08932-6, EUR 49,00
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Stefan Samerski: Alfred Bengsch. Bischof im geteilten Berlin, Freiburg: Herder 2021
Stefan Samerski (Hg.): Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007
Stefan Samerski: "Wie im Himmel, so auf Erden?". Selig- und Heiligsprechung in der katholischen Kirche 1740 bis 1870, Stuttgart: W. Kohlhammer 2002
Die Religionsgeschichte hat sich in Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren weitgehend als eine dezidiert von der Kirchengeschichte abgegrenzte Disziplin etabliert. Sie war bis vor kurzem entschieden sozialgeschichtlich orientiert und wies dabei alle Besonderheiten der deutschen Sozialgeschichte auf: Staatszentrierung, Interesse für Modernisierungs- und Systemtheorien. Die Religion wurde meist in ihrem funktionalen Zusammenhang analysiert. Dieser Ansatz ließ bewusst Leerstellen; so wurde die Frömmigkeitsgeschichte wenig beachtet. Die Konfessionalisierungsforschung parallelisierte Protestantismus und Katholizismus, welche als funktionale Äquivalente betrachtet wurden. Seit etwa fünfzehn Jahren entfaltet sich jedoch auch in Deutschland die Kulturgeschichte, welche sich für das genuin Religiöse am Religiösen interessiert. Dabei kamen beachtliche Impulse aus der Kirchengeschichte. [1]
Der von Stefan Samerski und Anna Ohlidal herausgegebene Sammelband ist dieser Neuorientierung zuzuordnen. Er geht auf eine Tagung zurück, welche am 17. und 18. Januar 2003 am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig im Rahmen des Projektes "Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa" veranstaltet wurde. Ziel der Tagung war es, "die religiös-kultischen Konsequenzen der umfassenden Formierungsprozesse des konfessionellen Zeitalters aufzuzeigen und das Konfessionalisierungsparadigma daran zu prüfen." (7) Untersucht wurde der heterogene und synkretische Charakter jesuitischer Frömmigkeitsformen auf lokaler Ebene, um die Frage zu beantworten, ob die Jesuiten die "Ausformung von klar definierten Konfessionen ermöglichten, förderten oder sie im Gegenteil verhinderten" (10). Unter "Frömmigkeitskultur" wird von den Herausgebern die "Bündelung von disparaten Frömmigkeitsformen" (9) verstanden.
Der Aufbau des Bandes folgt konsequent dieser Fragestellung. Die dreizehn Beiträge werden in drei Gruppen eingeteilt: "Innerkonfessionelle Interaktion: vertikal", "Innerkonfessionelle Interaktion: horizontal" und "Interkonfessionelle Interaktion". Insgesamt wird auch durch die thematische, zeitliche und geographische Konzentrierung eine große Kohärenz gewährleistet. In dieser Besprechung wird leider aus Platzmangel nicht auf alle Beiträge eingegangen.
Gábor Tüskés (Jesuitenliteratur und Frömmigkeitspraxis in Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert) und Maria Crăciun (Implementing Catholic Reform. The Jesuits and Traditional Religion in early modern Transylvania) gehen vor allem auf den Kult der ungarischen heiligen Patrone ein und betonen dabei die Anpassung der Jesuiten an traditionelle und lokale Frömmigkeitsformen. Gábor Tüskés kommt somit zu dem Schluss, dass es keinen einheitlichen jesuitischen Frömmigkeitsstil gegeben habe, während Maria Crăciun die These verteidigt, der tridentinische Katholizismus habe nur in sehr verwässerter Form die Randgebiete des Katholizismus erreicht. Nichtsdestotrotz kann man sich die Frage stellen, ob nicht gerade die Förderung des Heiligenpatronats und insbesondere des Marienpatronats (hier ist mit Blick auf Ungarn besonders an die Patrona Hungariae zu denken), ein europaweiter und zentraler Zug des jesuitischen Frömmigkeitsstils war. Es scheint, dass gerade durch eine Weiterentwicklung des Heiligenpatronats die Jesuiten das Lokale mit dem Universalen verbinden konnten, so dass eine Entweder-oder-Betrachtung etwas in die Irre führt.
Gerade dieser Prozess der Überformung lokaler Heiligenkulte wird anhand der Studie von Stefan Samerski (Von der Rezeption zur Indoktrination. Die Annenbruderschaft in Olmütz im 16. und 17. Jahrhundert) deutlich. Der Impuls für die Wiederbelebung der spätmittelalterlichen Annenbruderschaft in Olmütz kam aus der Bürgerschaft, welche den sehr anspruchsvollen Verpflichtungen der jesuitischen marianischen Sodalitäten zurückhaltend gegenüberstand. Gleichwohl wurde im 17. Jahrhundert der Frömmigkeitsstil dieser Bruderschaft durch eine Aufnahme mancher weitgehenden Elemente des Marienkultes "sodalisiert". Auch der Beitrag von Anna Ohlidal deutet in diese Richtung. Die Wallfahrt nach Altbunzlau (unweit von Prag) konnte erst wirklich belebt werden, als der Wenzelskult mit der universalen Marienverehrung verknüpft und bald von ihr deutlich überflügelt wurde. Interessant wäre es in diesem Fall gewesen, näher auf die Vorstellungen des "Altbunzlauer Palladiums" einzugehen und diese mit den sich zu dieser Zeit in den Nachbarländern eben maßgeblich durch die Jesuiten entwickelnden Marienpatronaten zu vergleichen.
István Fazekas (Jesuitenfrömmigkeit und Priesterausbildung am Pazmaneum, dem Ungarischen Seminar in Wien, 17./18. Jahrhundert) und Helga Penz ("Jesuitisieren der alten Orden"? Anmerkungen zum Verhältnis der Gesellschaft Jesu zu den österreichischen Stiften im konfessionellen Zeitalter) zeigen Konflikte zwischen der Strenge der jesuitischen Erziehung und dem Lebensstil des Welt- bzw. Stiftklerus auf. Gleichzeitig betonen beide die Ausstrahlung und die Dynamik des jesuitischen Lebens- und Frömmigkeitsstils. Helga Penz stellt dabei die Frage, welcher Lebensstil moderner war und stellt die These auf, der "nüchterne Ton der Geschäftsmäßigkeit" der Stifte sei "genauso modern wie die [...] als exemplarische Missionserfolge ausgewiesenen Dämonenaustreibungen" der Jesuiten, ja seien "die ersten Vorboten eines aufgeklärten Zeitalters" (160 f.). Diese These vermag nach Ansicht des Rezensenten nicht ganz zu überzeugen. Helga Penz wägt hier Unterschiedliches gegeneinander ab und zeigt dabei ungewollt, dass der Begriff "modern" mit arbiträrem teleologischen Inhalt gefüllt werden kann. Deutlich werden hier die Schwierigkeiten jeglicher Modernisierungstheorien sichtbar, die übrigens auch auf das Konfessionalisierungsparadigma zutreffen.
Petr Mat'a weist in seinem Aufsatz "Zwischen Heiligkeit und Betrügerei. Arme-Seelen-Retter, Exorzisten, Visionäre und Propheten im Jesuiten- und Karmelitenorden" auf das in der deutschen Forschung aufgrund des Disziplinierungsparadigmas noch wenig beachtete Phänomen der Vermehrung "heiligmäßiger" Figuren im posttridentinischen Katholizismus. Weiterführend ist der von ihm verwendete Begriff des "Charismatikers", der es ermöglicht, jenseits der theologischen Klassifizierung Persönlichkeiten zusammenzufassen, die "aufgrund einer explizit oder implizit in Anspruch genommenen außerordentlichen Begabung wiederholt Kontakte zum Jenseits pflegten" (179). Mat'a stellt überzeugend dar, wie jesuitische und karmelitische Charismatiker Vorbilder bemühten, die sie aus der Geschichte ihres Ordens gewannen, und so die Frömmigkeitsnachfrage prominenter Laien befriedigten. Dabei war der Beitrag dieser Charismatiker zur Etablierung ihres Ordens in Böhmen nach der Schlacht am Weißen Berg von erheblicher Bedeutung. Gleichzeitig stellten jedoch ihre Aktivitäten eine Gefährdung der Ordenshierarchie dar.
Zuletzt wird auch die Interaktion mit anderen Konfessionen in dem Sammelband berücksichtigt, was in Ostmitteleuropa hinsichtlich der multikonfessionellen Lage von erheblicher Bedeutung ist. Pál Ács führt auf, wie der ungarische Jesuit Péter Pázmány die lutherische Vorstellung einer apokalyptischen Zerschlagung Ungarns widerlegte, während Marcin Wisłocki zeigt, dass die pommerschen Lutheraner sich im 17. und 18. Jahrhundert manche christologischen Elemente der jesuitischen Frömmigkeitskultur angeeignet haben.
Hinsichtlich all dieser interessanten Ergebnisse ist die These der Herausgeber, man solle nicht von einer jesuitischen Frömmigkeitskultur im Singular sprechen, zwar heuristisch notwendig, aber dennoch nicht vollkommen einleuchtend. Die einzelnen Beiträge zeichnen im Gegenteil eher das Bild einer relativen Einheitlichkeit des jesuitischen Frömmigkeitsstils. Obwohl der Band tatsächlich eine Leerstelle der Konfessionalisierungsforschung deckt, kann zudem das Ziel, das Konfessionalisierungsparadigma zu überprüfen, nur teilweise erreicht werden. Die Konfessionalisierung wird in den einzelnen Beiträgen nicht selten in einem schwachen Sinne als Konfessionsbildung verstanden, wobei das modernisierungstheoretische Moment außer Acht gelassen wird. Vielleicht hätte die Veröffentlichung an Aussagekraft gewinnen können, hätte man sich stärker zu einer alternativen Begrifflichkeit - etwa einer kulturgeschichtlichen - bekannt. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass dieser sehr zu empfehlende Sammelband gründlich recherchierte Aufsätze enthält, welche vielfach fruchtbares Neuland betreten. Es ist zu hoffen, dass der Band weitere ähnliche Studien anstoßen wird.
Anmerkung:
[1] Thomas Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg und westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur, Tübingen 1998.
Damien Tricoire