Harriet Stone: Tables of Knowledge: Descartes in Vermeer's Studio, Ithaca / London: Cornell University Press 2006, xxxvi + 168 S., 17 plates. 5 fig., ISBN 978-0-8014-4461-6, GBP 22,95
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Eine Kardinalfrage stellt Harriet Stone an den Anfang ihrer Studie Tables of Knowledge. Descartes in Vermeer's Studio: Kann eine naturwissenschaftliche Methode, wie sie Descartes in seinen Discours de la méthode (1637) entwickelte, Welt und Natur umfassend erklären? Gibt es nicht eine generelle Unvereinbarkeit zwischen der cartesischen Suche nach Wahrheit, dem Vertrauen auf den Aufbau einer logisch-deduktiven Methode, und einer konkreten Anwendung bzw. Anschaulichkeit in natura? Und überhaupt: Kann (biologische, künstlerische, etc.) Diversität auf wenige strukturelle Prinzipien reduziert werden?
Stone geht ihre Überlegungen zunächst auf differenzierte Weise an und legt die Gründe dar, sich ausgerechnet der Konstellation zwischen 'Descartes und Vermeer' zu widmen, die nicht persönlich interessant sein kann (Philosoph und Maler haben sich nicht gekannt, nicht getroffen), sondern stellvertretend für das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Episteme ("science" und "art") des 17. Jahrhunderts stehen soll. Zugleich stellt sie ihre Analyse ausdrücklich in die Tradition einer foucaultschen Archäologie des Wissens und versucht dabei, nicht den Einfluss der Philosophie auf die Kunstgeschichte, sondern umgekehrt die vermittelnde Rolle der visuellen Kultur auf Wissensformationen der frühen Neuzeit zu untersuchen: "I consider the meditating role of art as the necessary outgrowth of the failure of science, and in particular that which governs taxonomy, to stabilize knowledge." (xxviii). Foucaults Diskussion frühneuzeitlicher Vorstöße auf dem Gebiet der Klassifikations- und Zeichensysteme findet damit ein Echo auf kunstwissenschaftlicher Ebene - inwieweit zugunsten von Stones Buch, wird noch zu fragen sein.
Die Autorin argumentiert im Weiteren wie folgt: Die Unzufriedenheit, die nach anfänglichen Emphasen der Wissenskompilation während des gesamten 18. Jahrhunderts anzutreffen war - die Erkenntnis, dass die immer genauere Datenerhebung und Spezifizierung nicht unbedingt kohärentes Wissen erzeugt - sei bereits in der cartesischen Reduktion auf wenige übersichtliche Prinzipien angelegt gewesen. Disparate Erklärungen und individuelle Erlebnisse lassen sich dadurch nämlich weder wiedergeben noch erhalten; zu viele Einzelheiten fielen durch das genormte Raster der wissenschaftlichen Observation. Eine adäquate Repräsentation der Welt verschränke deshalb mindestens zwei Darstellungsmodi: 1) die individuellen, beweglichen Wahrnehmungs- und Erkenntnismuster als solche, die immer neue Verbindungen eingingen, mit 2) dem Aufbau einer stringenten, kristallinen Wissensstruktur. Letztere nennt Stone (in Anlehnung an den epistemologisch vorgeschalteten tabula rasa-Begriff) einen table of knowledge: angesammelte Sinnesdaten und Wissenselemente werden auf einer Art Display ausgebreitet, sortiert, vervollständigt und miteinander zu einer kohärenten Struktur verbunden.
An dieser Stelle wird der entscheidende Akzent gesetzt: Nicht nur wissenschaftliche Diagramme und Klassifikationssysteme, sondern auch Bilder stellen solche Wissenstafeln bereit. Vermeer beispielsweise versammelt wie ein Wissenschaftler Beobachtungen auf der Leinwand, um sie in Reflexionen zu verwandeln - Stone spricht von "Vermeer's intellectual imagination, his ability to transform visual stimuli, observations of the world, into ideas, observations about the world" (xxxii). Die Gegenstände werden vorsichtig verrückt, verschoben, vergrößert oder verkleinert, um nicht nur als Dinge, sondern als Konstellationen wahrgenommen zu werden. Auch die wiederholte Darstellung eines Motivs gehört in diesen Zusammenhang, vor allem, wenn wir trotz der Ähnlichkeit im Vergleich mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten bemerken. Überhaupt gehe es um die Sichtbarmachung eines fundamentalen Spalts zwischen Welt und Abbild, d. h. um die Erkenntnis, "that objects have no meaning until they are inscribed in representation" (ebd.). An gleicher Stelle wählt Stone, nun überdeutlich an Foucault anschließend, den Ausdruck vom "framing by the mind", um Vermeers Reflexionsleistung auf bildlicher Ebene zu beschreiben. Wissen ist nicht nur eine Domäne der Naturwissenschaften, auch Bilder haben größten Anteil an den Ordnungsversuchen der Frühen Neuzeit. Kunst und Naturwissenschaft verhalten sich im 17. Jahrhundert überhaupt reziprok zueinander ("the art of Descartes' science - the science of Vermeer's art" (xxxiii)), indem sie wechselweise die diskursiven und visuellen Anteile in Repräsentationsvorgängen betonen. Ihnen gemein ist die rückhaltlose Absage an die klassische Kontinuität des Seins und der Natur, an die Möglichkeit wirklicher Mimesis. Stattdessen eröffnet sich im Barock hier wie dort ein "artificial view of experience", wie Stone es in ihrer Einleitung abschließend nennt (xxxii).
Ich habe nicht ohne Grund bislang fast ausschließlich aus diesem ersten Teil zitiert. Denn andererseits muss ebenfalls thematisiert werden, wie dem viel versprechenden Auftakt zwar keine enttäuschende, doch eine grundsätzlich konventionelle Ausführung folgt. Ein Blick in die Bibliografie legt die Gründe offen: Nicht ein unerwarteter Titel springt ins Auge, der dem vorgesteckten Parcours der Einleitung eine neue Wendung hätte geben können. Im Gegenteil, Stone versucht, sich selbst in eine etablierte Forschungsgeschichte einzuschreiben, wählt sich nur die bekanntesten Autoren zu Partnern und bestätigt deren Lesart. Das mag nicht nur deswegen sein, weil die Autorin eigentlich Romanistin ist - einige der interessantesten Titel zur barocken Kunstgeschichte stammen aus der Feder methodenbewusster Literaturwissenschaftler, und gerade fremdes oder nicht so bekanntes Textmaterial hätte der Studie einen vollkommen veränderten Anstrich gegeben (außer Descartes erwähnt Stone nur noch Bacon, Ripa und Linné). Stattdessen wird kaum aus dem barocken überreichen Quellenfundus geschöpft, sondern explizit darauf hingewiesen, dass die Autorin keine Mikrogeschichte, sondern Strukturgeschichte schreiben will: "I am following Foucault's lead (...) in my emphasis on logic and structures that create knowledge rather than on specific knowns or content" (xxviii). Doch auch dazu benötigt man - mit Verlaub - Material. Die sorgfältig ausgedünnte Lektüre wirkt berechnend, weil auf diese Weise jede Störung der Argumentation systematisch ausgeräumt wurde und Stone ihre Studie an ein spezifisches anglo-amerikanisches Publikum adressiert.
In letzter Zeit hat es einige Publikationen zu Vermeer und der barocken Philosophie gegeben: Hubertus Schlenkes hypothetische Studie zu Vermeer und Spinoza beispielsweise, die wesentlich fundiertere Dissertation zum selben Thema von Sarah Hornäk, Robert D. Huertas problematische Überlegungen zu Vermeer and Plato. Painting the Ideal, Christopher Braiders Artikel zu The Cartesian Cogito and Vermeer's The Art of Painting, Norman Bryson's prägende Passage zu Descartes und Vermeer in Vision and Painting oder Didi-Hubermans Essay zur nicht-deskriptiven Kunst Vermeers - alles Texte, die trotz ihrer offensichtlichen thematischen Nähe in Stones Studie nicht einmal in der Bibliografie Platz gefunden haben. [1] Damit aber werden divergente Fragestellungen ausgeblendet, die eine fruchtbare Diskussion in Gang hätten setzen können. Zugleich wird eine Forschungsgeschichte fortgeschrieben, die sich auf zunehmende Weise ebenso bequem erweist wie Descartes' vielfach geschmähtes, überheiztes Ofenzimmer.
Anmerkung:
[1] Hubertus Schlenke: Vermeer, mit Spinoza gesehen, Berlin 1998; Sarah Hornäk: Spinoza und Vermeer. Immanenz in Philosophie und Malerei, Würzburg 2004; Robert D. Huerta: Vermeer and Plato. Painting the Ideal, Lewisburg 2005; Christoph Braider: The Denuded Muse: The Unmasking of Point of View in the Cartesian Cogito and Vermeer's The Art of Painting, in: Poetics Today, vol. 10. no. 1, Art and Literature I. (1989), 173-203; Norman Bryson: Vision and Painting. The Logic of the Gaze, London / New Haven 1983; Georges Didi-Huberman: The Art of not Describing: Vermeer - the Detail and the Patch, in: History of the Human Sciences (1989), v. II, n. 2, 135-69.
Karin Leonhard